Zweiundvierzig

Der Regen fiel. Er tänzelte auf dem ausgedörrten Rasen und haftete an den Blättern der Bäume. Ich, unter dem schützenden Vordach des Hauses sitzend, sah ihm zu. Als ich die Küche betrat, fiel mein Blick durch das Fenster auf den kleinen Papierkorb, den ich am Abend zuvor draußen vergessen hatte. Er hatte sich mit Regenwasser gefüllt, das nun darin ruhte. Aus den Lautsprechern des Radios erklang leise der Song „Chasing Cars.“ 

Die Laufschuhe verharrten einsam vor dem Kamin, unberührt an diesem Morgen. Mit einem Glas Wasser in der Hand, lehnte ich mich an den Rand der Küchenarbeitsplatte und lauschte den Klängen des Liedes. Es war nicht die Version, die mir längst bekannt war. Nein. Es war eine andere Fassung, die Version, die vom Duo „The Wind and the Wave“ gesungen wurde, und in diesem Moment empfand ich sie als weitaus schöner. Ist es nicht seltsam, wie wir die Musik feiern, wenn wir glücklich sind, doch in jenem Augenblick, in dem uns die Schwere der Traurigkeit überkommt, die Worte plötzlich wirklich verstehen können? 

Ich trank einen Schluck des Wassers und ließ die Worte auf mich einströmen. Alles vermögen wir aus eigener Kraft heraus zu meistern. Wir brauchen nichts. Und niemanden. Wenn ich hier liege, einfach nur liege, würdest Du Dich zu mir legen und könnten wir gemeinsam die Welt vergessen?  

Vom Schreibtisch aus vernahm ich das leise Rufen der unerledigten Aufgaben, die nach meiner Aufmerksamkeit verlangten. Mein Vorhaben, zum Rubbenbruchsee zu fahren, verwarf ich. Doch die sanfte Stimme aus den Lautsprechern drängte mich dazu, alles zu vergessen, was uns eingetrichtert worden war. Stattdessen solle ich ihr einen Garten zeigen, der in voller Pracht erblühte, bevor es zu spät sein würde, bevor wir alt sein würden. Sie lud mich ein, die Zeit sinnlos zu vertrödeln und Autorennen im Kopf zu veranstalten.

Wie gemeldet, begann der Regen langsam abzuklingen. Doch das unermüdliche Rufen vom Schreibtisch wurde immer dringlicher. Auch mein Magen meldete sich zu Wort, der vielleicht zu lange vernachlässigt wurde. Unbeeindruckt davon sang die Stimme weiter. Keine Ahnung, wohin dieser Weg führen würde. Eins jedoch wusste sie sicher:

„Die Dinge zwischen uns werden sich niemals ändern. Wenn ich hier liege, einfach nur liege, würdest Du Dich zu mir legen? Dann könnten wir gemeinsam die Welt hinter uns lassen.“

Vier Minuten und elf Sekunden. Die letzten Klänge verhallten. Der Rubbenbruchsee sollte warten, ebenso wie die anstehenden Aufgaben, und mein Magen würde sich noch eine Weile gedulden müssen. Ich leerte mein Wasserglas in einem Zug, schlüpfte in meine Laufschuhe und ging gemächlich los. Die Luft war erfrischend und der Duft von Petrichor zog durch die Straßen. Ein Auto rauschte an mir vorbei, während ich in meinem Inneren ein imaginäres Bollerwagenrennen veranstaltete. Auf dem Schützenplatz hatten sie bereits das große Festzelt errichtet. Heute Abend würde ich mit den anderen Bewohnern, die Straße schmücken. Grüne und weiße Fähnchen würden den Weg säumen und alles würde makellos erscheinen.

Die grauen Wolken, die wie schwere Leichentücher über den Dächern des Dorfes hingen, begannen sich allmählich zu verziehen. Vom Westen her näherte sich das strahlende Blau des Himmels. Mit jedem Schritt, den ich tat, schwand die Schwere, die mich am Morgen noch befallen hatte. Ein leises Lächeln huschte über meine Lippen, als die ältere Dame mich fragte, ob ich erneut auf Achse sei. Sie hatte mitbekommen, dass bald ein neuer Hund an meiner Seite sein würde, und erwähnte, wie schön sie immer das Bild fand, wenn ich mit meinem längst verstorbenen Gefährten die Straße entlangging. Es habe etwas unbeschreiblich Harmonisches ausgestrahlt, meinte sie. Ich versprach ihr zu klingen, sobald es so weit war. Daraufhin schenkte sie mir ein fröhliches Lächeln. 

Vielleicht ergreife ich in der kommenden Woche die Gelegenheit und fahre zum See. Vielleicht werde ich dort auf einer der Bänke Platz nehmen und meinen Blick über das ruhige Wasser schweifen lassen. Möglichweise ziehe ich mein Smartphone aus der Tasche, um jenen Moment zu teilen. Und dann? Dann werde ich nicht danach fragen, ob jemand sich zu mir setzt. Vielleicht geschieht es ganz von selbst. Und vielleicht lassen wir dann, ohne ein einziges Wort miteinander zu wechseln, für einen kostbaren Augenblick die Welt hinter uns. Ganz gleich, was geschehen wird, es existieren Gärten, die in voller Pracht erblühen und wir müssen uns entscheiden, sie wahrzunehmen, bevor es zu spät ist. Das habe ich viel zu lange nicht getan. Musik besitzt eine unermessliche Kraft und Texte mögen viel bewegen. Manchmal lassen sie uns lächeln, manchmal machen sie uns traurig.

Und dennoch:

Das Leben ist schön.       

    

Klicken Sie auf den unteren Button, um den Inhalt von open.spotify.com zu laden.

Inhalt laden