Vierzig.
Mit zittrigen Fingern entnahm er die letzte Gauloises aus dem Päckchen. Doch ein Streichholz entzündete er nicht. Die Zigarette ruhte zwischen seinen Fingern, während er, mit einem Ausdruck, der so viel sagte und doch nichts verriet, aus dem Fenster blickte. Sein Blick war anders. Eine gewisse Leere zeichnete seine Pupillen. Er wirkte leer. Trübselig. Als ob das Leben an ihm vorbei zog.
„Weißt du“, begann er leise zu erzählen, „wir trafen uns damals zum ersten Mal an einem kleinen See. Es war Sommer. Und obwohl die Sonne strahlte, waren dort nur wenige Menschen. Ich erinnere mich an eine Frau, die mit ihrem Hund am Ufer entlangspazierte, an ein paar junge Männer, die ihre Fahrräder langsam schoben. Und da waren die Enten, die so sanft über das stille Wasser glitten. Es war ein Tag von atemberaubender Schönheit.“
Ich schwieg, da es ungewohnt war, dass er mir Einblicke in sein Leben gewährte. Doch gleichzeitig erfüllte es mich mit Freude, dass er sich in seinen späten Tagen zu öffnen schien. Es kam mir so vor, als gäbe da noch etwas, das er unbedingt loswerden musste. Dieser Gedanke machte mich melancholisch, denn es fühlte sich an, als kündigte diese Öffnung das nahende Ende an.
„Es war bemerkenswert. Wir trafen uns zum ersten Mal und gleich fühlte es sich an, als ob zwei getrennte Teile einer Seele wieder zueinander gefunden hätten. In diesen Stunden am See, sprachen wir über alles. Sie war still, unaufdringlich, leise. Von Ihr ging eine Ruhe aus, die mich selbst beruhigte. Und doch behauptete sie, dass genaue Gegenteil zu sein. Sie war nie zu laut. Niemals zu viel. Wenn sie sprach, lag eine Tiefe in ihren Worten, die mir manchmal Angst machte, weil sie so tief waren, dass ich mir vorkam, als sei ich ihr nicht gewachsen. Als sei ich nicht genug. Dennoch waren sie so wunderschön, dass ich nicht aufhören konnte, ihnen gebannt zuzuhören.“
Plötzlich kehrte er aus der Vergangenheit zurück in die Gegenwart. Die Leere in seinem Blick war wie verflogen. Er starrte mich an, als wäre er überrascht, mich zu sehen. Vielleicht überkam ihn die plötzliche Erkenntnis, dass er mir einen, seiner kostbarsten Momente offenbart hatte. Ich erwiderte seinen Blick mit einem Lächeln, in der Hoffnung, Ruhe auszustrahlen. Doch vermutlich war mein Verhalten mehr Schein als Sein, denn oft hatte ich das Gefühl, dass er hinter jede Maske schauen konnte. Das war bemerkenswert, besonders da er selbst ein Mensch war, der hinter meterdicken Mauern lebte.
„Manchmal kehre ich in meinen Gedanken zu diesem besonderen Tag zurück. Zu diesem Ort. Und immer wieder finde ich mich auf dieser Bank wieder. Die Enten gleiten nach wie vor über das ruhige Wasser, während die Sonne ihre warmen Strahlen vom Himmel schickt. Und sie? Sie sitzt dort. Auf der Bank. In diesen Momenten setze ich mich zu ihr und teile all das, was mich bewegt. Ich erzähle ihr von meinen Sorgen und meinen Freuden. Sie sitzt einfach nur da und hört zu. Ohne zu verurteilen. Ohne zu beurteilen. Manchmal spricht sie ohne Worte, gibt mir Ratschläge, die nur durch ihre Präsenz zum Ausdruck kommen. Obwohl ich ihre Stimme seit Ewigkeiten nicht gehört habe, würde ich sie unter Tausenden erkennen.
Die Last meiner Fehler trage ich auf meinen Schultern. Ich gehöre nicht zu jenen, die zu den guten Menschen zählen. Die Narben auf meiner Haut mögen vielleicht Geschichten erzählen, doch die Wunden in meinem Herzen erzählen ganze Bände. Aber was soll´s? Manchmal ist es entscheidend, sich selbst zu verzeihen. Sich selbst all die Dinge zu vergeben, die man begangen hat. Keinen Groll zu hegen. Einmal sagte sie zu mir, dass der Mangel an Mut, Entschlossenheit und Selbstvertrauen, der Mangel an Courage, mein größtes Hindernis sei. Sie hatte recht. So bleiben mir am Ende nur die kostbaren Augenblicke auf der Bank am See, die ich in meinen Gedanken immer wieder durchlebe.“
Ein Moment der Stille breitete sich aus. Eine Stille, die ohrenbetäubend war. Ich blickte ihn fragend an. „Was erhoffst du dir von diesen Gedanken? Von diesen Fantasien, die nicht mehr sind als das?“ Die Zigarette hatte ihren Platz in seinem Mundwinkel gefunden.
„Frieden“, entgegnete er.
Ein Streichholz streifte über die rauen Seiten der Schachtel und entfachte eine Flamme, mit der er seine Zigarette zum Leben erweckte. Schweigend verharrten wir. Er hatte genug gesagt. Mir fehlten die Worte. Ich beobachte ihn, wie der den Rauch einsog und war erneut erstaunt darüber, wie schnell er sie konsumierte. Nur wenige Augenblicke vergingen.
„Du weißt schon, dass diese Dinger ungesund sind und dir eines Tages das Leben nehmen könnten?“, fragte ich schließlich.
„Ja“, antwortete er ruhig, „genau deshalb rauche ich.“
Tage vergingen, bevor unsere Wege sich erneut kreuzten. Ich wagte es nicht, nach jener Geschichte zu fragen, und er? Er schwieg darüber. Es schien, als hätte er sie losgelassen. Doch seine Ausstrahlung war kühl und verschlossen. Vielleicht hatte er nur eine weitere, undurchdringliche Mauer um sich errichtet.
Die Strähnen in seinem Haar trugen nun mehr Grau, als sie es noch vor wenigen Tagen taten.
Auch dieser Sommer würde vorüber ziehen.
Foto: Midjourney