Vierundvierzig.
Der Stapel unbeachteter, bereits bezahlter Rechnungen aus dem vergangenen Monat liegt vor mir. In mühevoller Kleinarbeit ordne ich sie nach einem System, das am Ende eine ordentliche Abrechnung für das Finanzamt hervorbringt. Der zehnte des Monats steht vor der Tür und ungeliebte Pflichten verlangen nach meiner Aufmerksamkeit. Doch sie ziehen sich endlos hin. Meine Gedanken dagegen flüchten immer wieder in eine Fantasiewelt, wo Geschichten auf mich warten, die mir besser gefallen.
Ein idyllisches Häuschen am Rande des Waldes taucht vor meinem inneren Auge auf. Ein Esel und ein Pony grasen friedlich auf einer Wiese, umgeben von einem selbstgezimmerten Holzzaun. Vor dem Haus schlängelt sich eine niedrige Mauer aus Natursteinen entlang, die einladend zum Verweilen einlädt. Doch noch zauberhafter sind die Stunden, die ich auf der kleinen Bank verbringe, umgeben von bunten Kissen, während der Abend langsam hereinbricht. Ein kleiner Weimaraner erkundet behutsam seine neue, unversehrte Welt, während er seine Runden dreht.
Das Telefon durchbricht die Stille und holt mich unsanft aus meiner Fantasiewelt zurück in die rohe Realität. Am anderen Ende der Leitung dröhnt die Stimme eines jungen Mannes, der ungebeten seine Geschichte über Photovoltaikanlagen und ihre unbestreitbaren Vorzüge zum Besten gibt. Etwas von Nachhaltigkeit und Energieeinsparungen murmelt er, doch ich schweige und beende das Gespräch abrupt, ohne selbst nur ein Wort zu verlieren. Ich kehre zurück zu meiner Pflicht und tauche ein in den Strom der Rechnungen. Eine nach der anderen pflege ich ein. Immer wieder betrachte ich die Rechnungsnummern, bis ich mich erneut in meiner kleinen Scheinwelt verliere.
Hinter dem Haus türmt sich das Holz, das unbedingt für den bevorstehenden Winter gespalten und gelagert werden muss. Mit kraftvollen Bewegungen zerteile ich es, mit der Spaltaxt, in kleine Scheite, die ich sorgsam in einen Karren lege. Behutsam schiebe ich diesen vollbeladenen Karren zu dem Schuppen, wo das Holz geduldig darauf wartet, in einigen Wintern seine Bestimmung zu erfüllen. Anschließend nehme ich den Besen zur Hand und fege den Holzfußboden der Küche sauber. Das schmutzige Geschirr findet seinen Weg ins Waschbecken, wo ich es gründlich reinige. Schließlich setze ich mich an den Tisch, bereit, ein paar Geschichten auf das Papier zu zaubern. Während meine Gedanken ihre Reise aufnehmen, schweift mein Blick durch das kleine Fenster. Dort erblicke ich die zarten Kamilleblüten, die auf einer lichtdurchfluteten Lichtung gedeihen und im Wechselspiel von Licht und Schatten ihre Schönheit entfalten, behütet vor rücksichtslosen Schritten unachtsamer Menschen.
Irgendwann ist die Last der Arbeit von mir genommen. Ich finde mich vor dem Haus wieder. Auf der Bank. Meine Beine strecke ich aus und schaue in den klaren Himmel, der hier, an diesem abgeschiedenen Ort, besonders gut zu betrachten ist. Sternschnuppen gleiten zur Erde, und jede einzelne von ihnen birgt einen Wunsch in sich. Der Duft von Heu liegt in der Luft. Aus dem Haus kommt jemand barfuß über das Gras gelaufen, reicht mir eine dampfende Tasse Tee und nimmt schweigend neben mir Platz. Gemeinsam schweifen unsere Blicke in die unendlichen Tiefen des Universums und bestaunen die Schönheit des Kosmos, von dem wir selbst ein Teil zu sein scheinen. „Stell dir mal vor“, flüstert eine Stimme, „vielleicht existiert da draußen irgendwo ein paralleles Universum, in dem wir uns nicht einmal kennen. Und vielleicht gibt es ein anderes, in dem wir uns jeden Tag begegnen.“
Mit einem Lächeln hebe ich meinen Blick. Vor mir steht der Bildschirm, neben mir der Ordner. Meine Hand greift nach der nächsten Rechnung, die zugleich die letzte ist. Sobald ich meine Arbeit gespeichert habe, suche ich nach einem leeren Blatt Papier. Manche Gedanken, manche Geschichten sollten sofort niedergeschrieben werden, damit sie nicht in Vergessenheit geraten. Diese kleinen Ausflüge in diese Scheinwelten, sie haben ihren eigenen Reiz. Immer, wenn ich diese Grenze überschreite, betrete ich einen Raum, der ausschließlich mir gehört. Was immer ich dort erlebe, kann mir niemand nehmen. Doch ich bin mir stets bewusst, dass es nicht gesund ist, sich unablässig in diesen Welten zu verlieren. Denn so wunderschön sie auch sein mögen, das wahre Leben spielt sich an anderer Stelle ab.
Der Rechner fährt herunter, während ich die anderen, elektrischen Geräte ausschalte. Der Sommer liegt in der Luft. Nun, da die Pflicht erfüllt ist, ruft der Tag mich nach draußen, direkt vor die Haustür. Es ist eine warme Atmosphäre. Vielleicht werde ich in der kommenden Woche nicht arbeiten. Vielleicht gönne ich mir ein paar Tage Auszeit und begebe mich auf die Suche nach einem charmanten Häuschen am Rande des Waldes. Vermutlich werde ich keines finden, das meinen Vorstellungen gerecht wird. Aber das Träumen hat nach wie vor eine besondere Schönheit.