Vierundfünfzig.
Es war ein Ritual. An jedem Abend, bevor die Müdigkeit seine Lider schwer machte, trat er auf die kleine Terrasse, die mit altem Kopfsteinpflaster gepflastert war. Wenn Regen fiel, blieb er drinnen, ansonsten war es sein kleiner Moment der Stille. Die Terrasse lag abgewandt von der Straße, hinter dem alten Haus. Er atmete tief ein, die Nacht umschmeichelte seine Sinne. Das subtile Rascheln der Bäume, wie ein leises Flüstern von Geheimnissen, die sie nicht teilen wollten. Der Duft der Nacht war rein, jede Hektik des vergangenen Tages schien sich darin aufzulösen. Der Wind war oft nur ein sanftes Streicheln, doch er spürte es, als würde jemand Bekanntes ihn berühren.
Sein Blick ging unweigerlich himmelwärts. Manchmal erblickte er nichts als eine undurchdringliche Schwärze, die von dunklen Wolken geformt wurde. An anderen Abenden wiederum funkelte der Himmel in einer Klarheit, die ihn sprachlos machte. Sterne, unzählbar und doch immer wieder versuchte er, sie zu zählen. Bei 29 brach er das Zählen jedes Mal ab, ein Geheimnis, das er mit sich selbst teilte. Es war seine Weise, das Universum und seine Unendlichkeit zu würdigen. In jenem Moment, auf dieser Terrasse, war er nicht nur ein Mann in einer großen Welt, er war Teil von allem. Und dieses Wissen gab ihm Frieden.
In dem Bewusstsein seiner Schwäche und des drohenden Verderbens, griff er nach der Schachtel aus dem Inneren seiner Jacke. Gauloises Blondes Blau. Eine Marke, die Erinnerungen an verschwiegene Pariser Straßencafés weckte. Bedächtig entnahm er eine der schlanken Zigaretten, positionierte sie zwischen seinen Lippen und zündete sie mit einem Streichholz an. Feuerzeuge waren ihm fremd. Der Rauch füllte sanft seine Lungen, er verweilte, bevor er in eleganten Schwaden in den sternlosen Nachthimmel aufstieg. Er betrachtete die zarte Verästelung, reflektierte seine eigenen Unzulänglichkeiten. Dieses Ritual, eine stille Kommunion zwischen ihm und dem Unendlichen, erlaubte keine Urteile. Nur er, sein Laster und der unergründliche Himmel darüber.
Er dachte weder an das, was war, noch an das, was kommen würde. In jener Stunde gab es nur den gegenwärtigen Moment, abgeschottet von Zeit und Raum. Sein Blick folgte dem Sternenmeer, das sich über ihm ausbreitete. „Dieses beständige Ich, das ist der Kern des Dilemmas“, murmelte er. Es war ihm bewusst, dass jedes seiner Atome einst im Herzen eines Sterns entstanden war. Er betrachtete seinen Körper und erkannte das Paradoxon: Trotz der scheinbaren Leere war er überwiegend aus Materie geformt. Diese Überlegungen behielt er für sich. Die Welt hatte ihm oft genug, mit einem ironischen Lächeln, gesagt, das wahre Vakuum befände sich in seinem Kopf. Aber hier, allein unter dem Sternentuch, war er sich seiner Erkenntnis sicher. Er, aus Materie geformt, war zweifellos real. Materie hingegen war lediglich nichts anderes als langsam schwingende Energie. Das Ich, sinnierte er, war vielleicht nur ein Konstrukt, eine Erfindung des Geistes. Es war nie real.
Sein Verstand war ein Labyrinth aus Bildern und Erwartungen. Eine Identität, die er zu sein glaubte. Doch dieses Ich war lediglich ein Bild. Ein Gemälde, gezeichnet aus den Erwartungen und den Urteilen, die andere über ihn fällten. Es war nicht sein Selbst, sondern die Summe dessen, was er und andere in ihm sehen wollten. Das Ego, ein verzweifelter Versuch des Verstandes, sich in einer Welt voller Bewertungen zurechtzufinden. Ein Drang nach Anerkennung, definiert durch Erfolge und äußere Werte. Er nahm einen tiefen Zug von seiner bereits brennenden Zigarette. Jeder Atemzug schien ihn tiefer in seine Reflexionen zu ziehen. Der Rauch erhob sich, verfing sich in den Sternen des Nachthimmels und verschwand – genau wie die Grenzen seines wahren Ichs.
In der Stille seines Daseins fühlte er, er sei nichts anderes als ein Fragment des unendlichen Kosmos. Ein Kosmos, der sich in einer ständigen Reflexion seiner selbst verlor, sich selbst immer wieder neu erträumte. Er, der sich in diesem unermesslichen Traum wiederfand, war gleichsam einem Tropfen, der sich sehnte, in das unendliche Meer zurückzufallen, von dem er schon immer ein Teil war. Seine Träume, vergänglich und flüchtig, verschwanden. Aber es gab diese seltene Sekunde, diesen flüchtigen Moment, in dem ihm alles bekannt und vertraut erschien, als würde der träumende Kosmos ihm kurz seine Geheimnisse enthüllen. In dieser Sekunde existierte weder Zeit noch Endlichkeit. Ein Gefühl von Freiheit, das jenseits von Sprache existiert, durchzog ihn. Und obwohl er von der unendlichen Dunkelheit des Raumes umgeben war, leuchtete in ihm das Licht des träumenden Universums.
Auf dem kühlen Pflaster ließ er sich nieder, ein kaum greifbares Gefühl, welches in ihm pulsierte und das er nicht in Worte fassen konnte. Zwischen seinen Fingern glühte die Zigarette, ein Kontrast zur Kälte des Steins. Ein flüchtiger Beobachter hätte vielleicht in seinem Blick eine Melancholie vermutet. Aber in Wirklichkeit fühlte er etwas, das so viel mehr war als das. Tief in ihm entfachte sich ein Gefühl von Frieden, von einem Verständnis, das über das Alltägliche hinausging. Er begriff, dass Schmerz zwar ein ständiger Begleiter des Lebens ist, das wahre Leiden jedoch oft von unserem eigenen Ego geschaffen wird. Dieses Ego, dieses Ich, war nur eine Maske. Das wahre Leben, so wurde ihm klar, war ein rauschender, endloser Traum. Ein Traum voller Möglichkeiten, den er immer wieder träumen konnte. Er fühlte sich belebt, als Teil eines unendlichen Ganzen.
In der Stille des Augenblicks hielt er eine Zigarette in der einen Hand und einen verborgenen, innigen Traum in der anderen. Er erhob sich, standhaft und unerschütterlich, ohne in den Gegensätzen von Gut und Böse verfangen zu sein.Ein unbeschreiblicher, fast schwereloser Frieden, umgab ihn, als er ging. Er wusste, als er fortging, dass er niemals zurückkehren würde. Der Weg war ihm fremd, doch er spürte die Melodie des Universums, die ihn lenkte, in der Hoffnung, dass am Ende dieses Pfades die Liebe stehen würde, so wie er sie erträumt hatte, bereit, ihn zu umarmen. Während er weiterging, ertönte das sanfte Lied eines Engels, und es freute sich ein anderer Engel mit ihm.