Siebzehn.

Der Frühling war längst da. An einem der Ränder des Weges blühten die Narzissen. Ihre gelben Köpfe streckten sich zum Licht der untergehenden Sonne. Ich erinnere mich an den Gesang der Vögel, den frühlingshaften Duft, der in der Luft lag und an die vielen jungen Menschen, die gemeinsam von Station zu Station gingen, stehen blieben und inne hielten. Gemeinsam betrachteten wir, ein paar Tage vor Ostern, den Leidensweg Jesu. Achtzehn Jahre war ich alt und damals noch Mitglied der katholischen Kirche. 

Die Jugendlichen kamen aus vielen umliegenden Ortsteilen, sie waren Mitglieder der anderen Kirchengemeinden. Ganz besonders blieb mir Jasim im Gedächtnis. Ich sah sie, sie sah mich. Wir tauschten Blicke, lächelten uns an, tauschten aber kein Wort miteinander. Die Wahrheit ist, sie hieß nicht Jasmin. Sie trug einen anderen Namen, aber dieser ist nicht weiter wichtig. Ein paar Tage später, es war um Ostern herum, trafen wir uns zufällig in einer Diskothek und wechselten all die Worte, die wir uns bei unserer ersten Begegnung aufgespart hatten. 

Später wurden wir ein Paar. Wir trafen uns, telefonierten und verbrachten viel Zeit miteinander. Ich lernte ihre Eltern kennen, sie meine. Doch wie es im Leben manchmal so ist, trennten sich unsere Wege nach einigen Monaten und diese Trennung endete im Streit. Mein Leben verlief damals nicht gradlinig. Es gab für mich einige Probleme, mit denen ich zu kämpfen hatte und ihr Leben verlief ähnlich. An einem Tag, im Sommer, besuchte ich sie. Für eine Stunde. Vielleicht waren es zwei. Und das Letzte, was sie mir entgegen schrie, war, dass ich eine komplette Enttäuschung sei. Für mich, der das nicht verstehen konnte, brach eine Welt vollständig in sich zusammen.

Ich hatte lange damit zu kämpfen. Mit der Trennung. Aber viel mehr mit dem Gedanken, eine Enttäuschung zu sein. Ich suchte nach den Fehlern, die ich begangen haben könnte, nach den falschen Entscheidungen, die ich getroffen haben musste. Natürlich wusste ich, dass es zwischen uns Dinge gab, die nicht im Einklang waren. Sichtweisen, Interessen, Dinge, die immer irgendwo unterschiedlich sein können. Was ich aber wirklich nicht begreifen konnte, war die Tatsache, ihre Tatsache, dass ich eine Enttäuschung sei. Leider, und ich glaube viele Menschen fallen darauf herein, glaubte ich es ihr. In meinem Kopf war der Gedanke gesät worden, eine Enttäuschung zu sein. 

Unbewusst fing ich von diesem Tag an, gegen diesen Gedanken zu kämpfen. Ich wollte keine Enttäuschung sein. Und um niemanden zu enttäuschen, begann ich damit den Erwartungen anderer zu entsprechen. Ich passte mich an. Wieder und wieder. Als mich jemand fragte, ob ich mich im Pfarrgemeinderat engagieren möchte, sagte ich zu. An dem Tag, an dem jemand meinte, es sei für mich eine gute Idee Teil des Stadtrates zu werden, trat ich in eine Partei ein. Um die Wahl zu gewinnen, ließ ich Flyer drucken, auf denen Ziele standen, die für die meisten Menschen gut klangen. Ich wurde Mitglied im Pfarrgemeinderat und Teil des Rates der Stadt Friesoythe. Aus der Kirche bin ich vor geraumer Zeit ausgetreten und ein Teil des Rates werde ich nie wieder sein. Warum nicht? Weil das Alles nicht dem entspricht, was ich wirklich bin. 

Vor kurzem habe ich den Film Inception gesehen. Nahezu dreizehn Jahre zu spät. Wer ihn noch nicht gesehen hat, sollte das nachholen. Für mich ein grandioser Film, den ich, wie erwähnt, leider zu spät gesehen habe. Aber besser spät als nie. Sei es drum. Es ist, wie es ist. Auf jedem Fall heißt es in dem Film:

„Welches ist der widerstandsfähigste Parasit? Ein Bakterium? Ein Virus? Ein Darmwurm? Ein Gedanke! Resistent, hochansteckend. Wenn ein Gedanke einen Verstand erstmal infiziert hat, ist es fast unmöglich, ihn zu entfernen.“      

Als der Abspann anfing, begann ich über das Gesehene nachzudenken. Wie oft pflanzen wir, meist unbewusst, Gedanken in die Köpfe anderer? Wie oft sagen wir Dinge, ohne wirklich darüber nachzudenken, was diese auslösen können? Ein kleines, unbedachtes Wort, das ein ganzes Leben verändern kann. Ich bin mir sicher, Jasmin denkt heute nicht mehr darüber nach. Wahrscheinlich hat sie es längst vergessen. Das ist vollkommen in Ordnung, denn für mich spielt es heute keine Rolle mehr. 

Die Wahrheit ist die: Vielleicht sagt Dir jemand, Du seist eine Enttäuschung. Das stimmt aber nicht. Du bist keine Enttäuschung! Du warst nie eine Enttäuschung! Du wirst nie eine Enttäuschung sein! Es kann sein, dass Du den Erwartungen anderer nicht entsprichst. Doch das aber ist vollkommen in Ordnung. Das muss Du nicht. Niemals! Niemals in DEINEM Leben musst Du den Erwartungen anderer entsprechen.

Eine Tatsache, die ich mittlerweile verinnerlicht habe. Dieser eine Gedanke, der mir seinerzeit ganz unbewusst eingepflanzt wurde, ist verschwunden. Im Film hieß es, dass es fast unmöglich sei, ihn zu entfernen. Fast unmöglich bedeutet zum Glück nicht, dass es unmöglich ist.