Siebenunddreißig.
Wer möchte im Ernst unsterblich sein?
Der Eichentisch, dessen Erschaffer und dessen Ära längst begraben und vergessen, ruhte still in der Küche neben dem Fenster. Er, an seinem Ende sitzend, hatte ein Buch vor sich platziert. Es erschien mir neu und unberührt. Behutsam öffnete er die Seiten, blätterte darin und legte nach einigen Augenblicken seinen alten, knochigen Finger auf eine der makellosen Textstellen. Mit nahezu feierlicher Bedächtigkeit begann er zu lesen: „Kann Gott einen Stein schaffen, den er nicht zu heben vermag?“ Sein Blick ruhte auf mir, während ich ihm eine Antwort schuldig blieb. Doch halte diese Frage lange in meinem Inneren nach.
Gestern, als sich der Tag zum Ende neigte, saß ich am Feldrand des Lebens, an einen alten Baum lehnend. Mein Blick schweifte über die Weite, bis zum Rand des fernen Wäldchens. Ich freute mich auf jenen kostbaren Moment, in dem das Verlangen voranzuschreiten verschwinden würde. Es war kein unruhiges Verharren, denn dieses impliziert stets eine Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Augenblick. Ich kostete die Stille, die Ruhe in vollen Zügen aus. Meine Gedanken ließ ich, frei die Vögel, durch die Lüfte gleiten. Ich ließ sie fliegen, bis zu dem Punkt, an dem sich jene Frage erneut in mein Bewusstsein drängte.
Mit dem Wissen um die Antwort schob ich die Frage beiseite und versank in meinen Gedanken über das Leben und den Tod, über die tiefgründigen Zusammenhänge des großen Ganzen. Die Wissenschaft hat inzwischen solch erstaunliche Fortschritte gemacht, dass wir uns oft einbilden, das Mysterium nahezu zu begreifen. Jene, deren Überzeugungen nicht den strengen Regeln der Wissenschaft entsprechen, werden oftmals belächelt. Doch wenn wir einen Blick in die Vergangenheit werfen, erkennen wir, dass die Wissenschaft oft im Irrtum lag und andere Weltbilder einen leitenden Platz einnahmen. Warum also nicht träumen, spekulieren und in Fantasien schwelgen, wie es anders sein könnte? Die Wahrheit ist doch, obwohl wir uns beinahe sicher sind, alles zu wissen, liegt das meiste von dem, was wahrhaftig ist, noch immer in der Finsternis verborgen.
Eines dieser Mysterien ist der Tod. Er hüllt sich in ein geheimnisvolles Schleierkleid. Die meisten Menschen allerdings, drängen den Gedanken an ihn beiseite und leben, als seien sie unsterblich. Doch wer würde sich in Wahrheit nach Unsterblichkeit sehnen? Wer möchte endlos durch die Zeit wandeln? Wie erschreckend ist es, zu erkennen, dass nichts mehr von Bedeutung wäre? Ganz gleich, was heute geschieht oder morgen. Es würden unzählige Tage folgen. Monate. Jahre. Jahrzehnte. Jahrhunderte. Jedes Versäumnis würde zu einem nichtigen Schatten verkommen, denn es gäbe keinen Grund mehr, etwas zu bereuen. Schließlich hätten wir die Ewigkeit an unserer Seite, um alles nachzuholen. Doch in Anbetracht dessen, wer würde es tun? Und wenn wir es tun würden, warum nicht heute, warum nicht jetzt? Vielleicht ist es der Tod, der dem Augenblick seine Schönheit und seinen Schrecken gibt.
Was geschieht, wenn der Vorhang des Lebens fällt? Endet alles? Wenn die „Geburt“ das Gegenstück zum „Sterben“ ist und die Geburt dem Tod entgegengesetzt wird, was steht dem Leben gegenüber?
Ich habe eine Vorstellung vom Sterben. Eine vage Idee. Eine Fantasie, einen Traum, eine Hoffnung. Der Körper verlangsamt seinen Rhythmus, eine Zelle nach der anderen erlischt. Doch das Gehirn sendet weiterhin funkelnde Neuronen aus. Kleine Lichtblitze, wie ein Feuerwerk im Inneren. Früher glaubte ich, in diesem endgültigen Moment Verzweiflung zu spüren. Oder Angst. Doch ich denke, nichts davon wird eintreten. Nichts. Denn in diesem Augenblick werde ich zu sehr damit beschäftigt sein, mich zu erinnern. An alles, was war. An alles, was ist.
Ich erinnere mich daran, dass jedes Atom in meinem Körper in einem Stern geschmiedet wurde. Der Körper besteht größtenteils aus leerem Raum und fester Substanz. Doch was ist schon feste Materie? Sie ist lediglich Energie, die in langsamer Schwingung verharrt. Und ich erinnere mich daran, dass es kein „Ich“ gibt. Es hat nie existiert.
Die Elektronen meines Körpers verteilen sich und tanzen mit den Elektronen des Bodens unter mir. Mit der Luft, die ich nicht länger atme. Ich erinnere mich, dass es keinen bestimmten Punkt gibt, an dem all dies endet und wo ich beginne. Ich erinnere mich. Ich bin Energie. Nicht das Gedächtnis. Nicht selbst. Mein Name, meine Persönlichkeit, meine Entscheidungen – all das kam lange nach mir. Was ich wirklich bin, lag vor ihnen und was ich bin, wird nach ihnen sein. Alles andere sind Bilder, die auf meinem Weg entstanden sind. Vergängliche Kurzträume, die auf das Gewebe meines sterbenden Gehirns projiziert wurden. Ich? Ich bin die zuckenden Blitze dazwischen. Ich bin die Energie, die die Neuronen entfacht. Und…
Ich kehre heim. Durch diese Erinnerungen kehre ich zurück nach Hause.
Es wird sein, als ob ein Wassertropfen zurückkehrt in das Meer, von dem er stets ein Teil war. Daran erinnere ich mich. Alle Dinge. Ein Teil. Alles von uns? Ein Teil. Du. Ich. Meine Mutter. Mein treuer Hund Andor. Der Fremde, dem ich zufällig auf der Straße begegne. Die Freundin, die zur Fremden wurde, mit der ich mir die gleichen Erinnerung teile. Alle, die jemals waren. Jede Pflanze. Jedes Tier. Jedes Atom. Jeder funkelnde Stern in den unendlichen Weiten der Galaxien. Alles. Ein Teil. Es gibt mehr Galaxien im Universum als Sandkörner am Strand. Und ich erinnere mich daran, dass wir dieses meinen, wenn wir von Gott sprechen. Der Kosmos. Der Kosmos und seine unermesslichen Träume. Der Stein, der nicht gehoben werden kann. Alles. Ein Teil.
Ich erinnere mich daran, dass wir der Kosmos sind, der von sich selbst träumt, sich selbst erschafft. Es ist wie ein Traum, den ich mein Leben nenne. Bei jeder Gelegenheit. Immer wieder. Doch ich vergesse ihn. Wie immer. Die meisten meiner Träume vergesse ich. Doch genau jetzt, in diesem winzigen Augenblick, in dem Moment, in dem ich mich erinnere, verstehe ich alles auf einmal. Es gibt keine Zeit. Es gibt keinen Tod. Eins und Eins ist nicht zwei. Es war niemals so. Ich erkenne, dass das Leben ein Traum ist. Ein Wunsch. Immer und immer wieder, unendlich oft gewünscht. Und ich? Dieses eine Ich existiert nicht, denn ich bin alles davon. Ich bin das Ganze. Ich bin alles. Ich bin, was ich bin.
Mit dem Einbruch der Dämmerung erspähte ich ein Reh, das sanft mit einem Kitz über die Wiese zog. Behutsam erhob ich mich. Meine Beine waren eingeschlafen, die müden Knochen knirschten. Scheinbar so laut, dass der Klang zu den Tieren dran und sie die Flucht ergriffen. Würde man mich heute fragen, ob ich vor dem Moment des letzten Atemzuges Furcht empfinde, wäre meine Antwort ein Nein. Ich fürchte mich nicht. Jener Augenblick wird von Erinnerung begleitet sein. Vielleicht empfinde ich sogar Vorfreude auf diesen Moment, doch werde ich nicht auf ihn warten oder ihm entgegen gehen. Er wird zu mir kommen, wenn ich genug Erfahrungen gesammelt habe und die Zeit gekommen ist, alles zu erkennen.