Sechsunddreißig.

Ich begriff die Schönheit des Unerwarteten.

Die leeren Rahmen an der Wand sehnen sich nach ergreifenden Bildern. Ich warte auf die Nebelschwaden, die erste Kühle des endenden Jahres und die leichte Berührung der Dunkelheit, die all die Wälder in mystische Schleier hüllt. Ein Wagen fährt am Haus vorbei, Richtung Hauptstraße, während die Wärme des Kaffees auf der Arbeitsplatte längst verflogen ist. Dennoch nehme ich einen kräftigen Schluck, der bitter auf der Zunge liegt. Das Postfach, welches ich zu einem bestimmten Zweck anlegte, ist immer noch leer. Sollte in den nächsten Tagen keine Nachricht kommen, gleicht es einer resignierenden Ablehnung. Bis zum nächsten Termin bleibt mir etwas Zeit. Vielleicht fülle ich diese mit Sport. Vielleicht lasse ich sie einfach verstreichen. Draußen ist es kühler geworden, der Himmel bedeckt. 

In Erwartung des Sommers, scheint es mir, als würde der Himmel sich selbst nach seinem tiefsten Blau sehnen. Und so, wie er sich nach Veränderung sehnen mag, schreit auch mein Innerstes danach. Ein Blick in den Kalender. Der nächste Termin ist um zwölf terminiert. Kostbare Zeit, die ich nun gedenke, mit Sport zu füllen. Die Bewegungsringe der Uhr streben nach Vollendung. Ich erkenne den wohltuenden Wert darin. Die vergangenen Wochen haben ihre Spuren hinterlassen. Einige Kilos zu viel, bestimmte Regionen zweifellos zu unbestimmt. Es ist eine Fülle an Arbeit, die lohnend sein wird. Es geht nicht um Ästhetik, sondern um das Empfinden, um die Kondition, um Wohlbefinden.

Erwartungen. Oftmals erscheinen sie mir wie zarte Blüten, die in der Dunkelheit erblühen. Blüten, dessen farbenprächtigen Blütenblätter mich mit Hoffnung und Sehnsucht erfüllen. Und doch weiß ich, dass ihre Vergänglichkeit unausweichlich ist. In den stillen Tiefen des Herzens ruht daher die schmerzliche Erkenntnis, dass jede Erwartung die Zerbrechlichkeit der Natur in sich trägt. Wie oft schon haben Erwartungen ein vermeintliches Netz aus Träumen gesponnen, dessen Fäden so leicht zu zerschneiden sind. Wie oft musste ich erkennen, dass in jedem Versprechen die Gefahr der Enttäuschung verborgen war. Und es waren nicht immer die Versprechen, die ich bekam. Auch ich sprach zu oft jene Versprechen aus. 

Es war nicht leicht zu begreifen, dass ich, sobald ich mich in meinen Erwartungen verfing, den kostbaren Moment des Hier und Jetzt verlor. Meine Augen waren auf die Zukunft gerichtet. Auf das, was sein könnte. Dabei verlor ich zuweilen den Blick darauf, was war. Ich malte mir die Welt aus, wie sie sein sollte und wenn diese nicht meinen Vorstellungen entsprach, trat die Enttäuschung ein. Doch als ich lernte, mich von meinen Erwartungen zu befreien, öffnete ich mich für das Wunderbare im Ungewissen, ich begriff die Schönheit des Unerwarteten. Ich ließ los, was sein sollte und umarmte, was war. Es ist die Magie des Lebens, die für Überraschungen sorgt, die mir auf meinem Weg begegnen. Nur in der Freiheit der Erwartungslosigkeit fand ich bislang die wahre Erfüllung und das unvergleichliche Glück des Augenblicks.

Ich trage nun die Gewissheit mit mir, dass ein starker Windstoß, eine unerwartete Wendung, die zarten Blüten, die aus der Finsternis des Unbekannten erblühten, von einem zum nächsten Augenblick verwelken lassen. Ich weiß, dass die Schatten der Enttäuschung sich einschleichen und jedes Herz in einem Labyrinth gebrochener Träume festhalten können. Dass das Leben seine eigene Choreografie hat, welche ein Spiel aus Unvorhersehbarkeit und Überraschungen ist, möchte ich nicht mehr vergessen. In dieser Erinnerung liegt die kostbare Lehre, dass wahres Glück niemals in den starren Grenzen der Erwartungen zu finden ist. Nein, das wahre Glück offenbart sich stets in den unerwarteten Momenten des Lebens, in den funkelnden Sternen, die aus der Dunkelheit empor steigen. Es ist die Freiheit der Erwartungslosigkeit, in der die Erfüllung zu finden ist. Und die gebrochenen Träume des Vergangenen sind es, die langsam ihren Platz räumen, um frischen Platz für neue Wunder zu schaffen.