Neunundfünfzig.

Manchmal, in stillen Augenblicken, erlaube ich meiner Fantasie, durch die Zeit zu wandern, hinein in eine noch unbekannte Zukunft. Dort, in einem Szenario, das mir so greifbar erscheint, dass ich beinahe glaube, die Konturen dessen, was geschehen wird, schon erkennen zu können, sehe ich mich selbst, sitzend an der Schwelle des Todes.

Die Gedanken, die ich dort habe, sind nicht neu. Sie sind vielmehr die unausgesprochenen Eingeständnisse einer Existenz, die von Versäumnissen und verpassten Gelegenheiten geprägt ist. Es sind die Gedanken an Dinge, die ich nie gewagt habe, an Chancen, die ich aus Furcht oder Gleichgültigkeit nicht ergriffen habe. An Menschen, denen ich hätte näher sein können, die ich vielleicht zu sehr für selbstverständlich hielt, bis sie für immer verschwanden.

Jeder dieser Gedanken trägt das Gewicht einer tiefen Reue. Die bedauernswerte Vorstellung, dass ich am Ende mit dem Bewusstsein zurückbleiben werde, dass ich hätte mehr leben, mehr lieben, mehr riskieren können, quält mich. Und dann, in jenem entscheidenden Moment, wenn die Dunkelheit mich einhüllt und die Stille so laut ist, dass sie alles andere übertönt, werde ich meine Augen schließen. Es wird das finale Kapitel einer Geschichte sein, die von „Was wäre wenn?“ geprägt ist. In der Tiefe meines Gewissens wird stets der Schatten der unergriffenen Möglichkeiten nagen. Es werden nicht die Taten sein, die ich vollbracht habe, die mich am Ende meiner Tage bedrücken werden, sondern die ausgelassenen Momente, die in der Stille zu mir flüstern.

Das Paradoxe daran ist, dass ich dieses Wissen trage, jeden Tag. Es brennt in meiner Seele, mahnt mich an die Unausweichlichkeit des Endes und die kostbare Flüchtigkeit des Lebens. Und dennoch, in einem Akt der unerklärlichen menschlichen Widersprüchlichkeit, ändere ich nichts. Es ist, als ob ich in einer beständigen Schleife des Bedauerns und der Untätigkeit gefangen wäre, die mich daran hindert, meinen eigenen Weg zu ändern.


Stell dir eine Realität vor, in der du all das, was du über dich zu wissen glaubst – dein Ego, deine antrainierten Überzeugungen und die tiefsitzenden Glaubenssätze – für einen Moment beiseitelegen könntest. Was bliebe zurück, wenn all das Rauschen, das uns täglich begleitet, verstummte? Ein leeres Stück Papier. Was würdest du auf dieses unschuldige, weiße Blatt schreiben, das geduldig auf den ersten Strich eines Füllers wartet?

Wie würde dieses Blatt aussehen, wenn es nicht von den Fesseln der Gesellschaft geprägt wäre, wenn es keinen Unterschied gäbe zwischen dem, was man „tun sollte“ und dem, was das Herz wirklich will? Ohne die Last der Erwartungen, ohne die Schatten der vorgegebenen Rollen – was würdest du in diese unberührte Landschaft schreiben?

Die Freiheit, die dieses weiße Blatt symbolisiert, ist beinahe überwältigend. Eine Chance, sich von den Schablonen und Mustern zu befreien, die unser Denken und Handeln so oft dominieren. Würdest du das Blatt mit den tiefsten Sehnsüchten, mit unbekannten Träumen, mit einer neuen Definition von dir selbst füllen? Oder würde die überwältigende Leere dich vor eine neue Herausforderung stellen?


In der tiefen Stille, die nur die Nacht mit sich bringt, setze ich mich mit mir selbst auseinander. Mein Innerstes fühlt sich wie ein altes, überlagertes Gemälde an, bei dem ich jede Schicht, die nicht mehr zu mir gehört, vorsichtig entfernen möchte. Bei jedem Stück, das ich von mir ziehe, sehe ich mich selbst in einem klareren Licht, erkenne, was echt ist und was nur eine Illusion, eine Fassade, die ich über Jahre aufgebaut habe.

Während dieser innigen Selbstreflexion, unerwartet und ungeladen, bahnt sich ein Gedanke seinen Weg zu meinem Bewusstsein – ein Eindringling in der Stille meiner Selbstbetrachtung. Der Gedanke, dass wenn ich alles aufgebe und neu beginne, all die vergangenen Jahre, all die Mühen und Errungenschaften, sinnlos gewesen wären. Dieser unerbetene Gast lässt mich zweifeln und verunsichert mein Innerstes.

Bevor ich mich dagegen wehren kann, finde ich mich in der allzu bekannten Spirale wieder, die mich gefangen nimmt und mich daran erinnert, wie verlockend es ist, das Vertraute zu bewahren. Es ist, als würde sie mir vorschlagen, den goldenen Käfig, in dem ich mich befinde, lediglich neu zu gestalten, anstatt die Tür zu öffnen und die Unbekannte Freiheit dahinter zu erkunden.

Die Wahrheit ist: Ich bin nicht der Fotograf, dessen Kalender mit endlosen Aufträgen überquillt, nicht der Geschäftsmann, der im unaufhörlichen Strom des Marktes ertrinkt. Ich gehöre nicht zu jenen, die, vom ersten Sonnenstrahl bis zum letzten Dämmerlicht, nur von Bilanzen, Gewinnen und Zahlen besessen sind.

Luxuriöse Uhren, die mit ihrem präzisen Ticken die Sekunden zählen, füllen nicht die Leere in meiner Seele. Das laute Röhren von Sportwagen, die teurer sind als manch Eigenheim, bringt mir keine innere Ruhe. Ich bin nicht der Mann in der dunkelblauen Steppjacke, der auf einer sattgrünen Wiese steht und seinen Hund ruft, während das Smartphone, fest zwischen Schulter und Ohr geklemmt, von einem Geschäftsabschluss zum nächsten eilt.

All diese Bilder, diese Stereotypen des Erfolgs und der Macht, sie sind nicht meine. Und auch wenn es Momente gab, in denen ich dachte, ich sollte danach streben, sie zu verkörpern, habe ich letztendlich erkannt, dass sie niemals ein wahrer Teil von mir waren.


Was am Ende bleibt, ist eine scheinbar simple, aber tiefgreifende Erkenntnis: Vor mir liegt ein makelloses, weißes Blatt Papier, geduldig wartend, berührt und gezeichnet zu werden von der Tinte eines Füllfederhalters. Es ist ein Symbol des Neubeginns.

Ich erkenne, während ich mich rückblickend durch die Wellen des Lebens navigiere, dass es oft mutiger ist, das Alte loszulassen, um das Neue willkommen zu heißen. Das Leben gleicht nämlich keiner präzisen Herzchirurgie, wo jeder Schnitt, jede Bewegung, das Schicksal eines Menschen bestimmt und wo kein Raum für Irrtümer ist. Es wäre ein großer Trugschluss zu glauben, dass ich durch das ständige Streben nach Sicherheit vor den Unwägbarkeiten des Schicksals gefeit wäre. Es ist ein Irrglaube, anzunehmen, dass das Klammern an allem, was mir vertraut ist, Kontrolle über mein Dasein gewährleistet.

Wahre Kontrolle, wahre Freiheit, entsteht paradoxerweise erst im Loslassen, in der Bereitschaft zur Veränderung. Selbstverständlich birgt jede Entscheidung, jeder Weg, das Risiko des Scheiterns, des Fiaskos. Doch genauso – in diesem mutigen Schritt ins Ungewisse – verbirgt sich die Chance auf Glück, auf Erfüllung.

Vielleicht lässt sich das Leben am besten in drei Abschnitte gliedern: Die Suche, in der wir uns oft verlieren; das Finden, das uns oft überrascht; und schließlich die Erkenntnis. Und mit dieser Erkenntnis kommt, oft unerwartet, ein Stück Gelassenheit, ein tieferes Verstehen unseres Platzes in dieser Welt.


Inmitten dieser Erkenntnisse, in dem leisen Zwielicht zwischen dem, was war, und dem, was sein könnte, flüstert mir eine feine, beharrliche Stimme ins Ohr. Sie erzählt mir von unbekannten Wegen, die noch vor mir liegen könnten, wenn ich nur den Mut aufbringe, die eingetretenen Pfade zu verlassen. Es ist die Stimme des Mutes, die mich daran erinnert, dass die dunkelsten Vorstellungen, die ich mir von meiner Zukunft mache, nicht unvermeidlich sind. Sie sind nur mögliche Realitäten, die ich selbst formen, ändern oder gar vermeiden kann. Wenn ich es wage, anders zu denken, anders zu handeln und mich den Neuanfängen zu öffnen, könnte die Geschichte, die ich am Ende meines Lebens erzählen werde, eine ganz andere sein. Es ist eine sanfte, aber drängende Aufforderung, mutig genug zu sein, mich von den Schatten der Vergangenheit zu lösen und in das helle Licht neuer Möglichkeiten zu treten.

Mit diesen Gedanken im Hinterkopf hebe ich den Füllfederhalter, spüre sein kühles Gewicht in meiner Hand und lasse seine Spitze behutsam auf das unbeschriebene Blatt Papier sinken. Das leise Kratzen der Feder auf dem Papier hallt in der Stille wider, als ich beginne, die ersten Worte einer neuen Geschichte zu schreiben. Jeder Buchstabe, jedes Wort, ist ein Schritt weg von den Fesseln der Vergangenheit und ein Schritt hin zu dem Unbekannten, das vor mir liegt. Das Blatt, einst so makellos und einschüchternd, beginnt sich zu füllen, nicht mit den „Was wäre wenn?“ von gestern, sondern mit den „Was könnte sein?“ von morgen. In diesem Moment verstehe ich, dass ich der einzige Autor meines Lebens bin, und dass es an mir liegt, welcher Art meine nächste Geschichte sein wird.