Neununddreißig.
Der Tag glich einem Meisterwerk der Natur in einem der schönsten Gemälde. Sonnenlicht spiegelte sich auf den frischgrünen Baumblättern wider und tanzte auf den Ästen, auf denen die Vögel ihre Melodien sangen. Der Duft von frisch gemähten Gras schwebte sanft von der Wiese herüber. Doch zugleich drang der süßlich, stechende Geruch des Verfalls in meine Nase, der mir zeigte, dass dort, wo das Leben pulsierend ist, auch der Tod seinen Platz beansprucht. Zwischen einigen Sträuchern, etwas entfernt vom Weg, ruhte ein Rehbock, dessen irdisches Dasein sein Ende gefunden hatte.
Die Natur erzählt unzählige Geschichten. Und manchmal habe ich das Gefühl, je mehr ich mich auf sie einlasse, ohne vorschnell zu urteilen, desto tiefer dringe ich in ihre Sprache ein. Es ist, als würde ich ein tiefes Verständnis dafür entwickeln, wie alles miteinander verwoben ist. Immer mehr offenbart sich mir ein Sinn, der sich durch alles zieht. Dabei behaupte ich nicht, ein Experte auf einem bestimmten Gebiet zu sein, aber ich erkenne Muster, Verbindungen und das stetige Gleichgewicht zwischen Licht und Dunkelheit, zwischen Geburt und Tod.
Wenn ich über die alten Feldwege spaziere, ohne bestimmtes Ziel vor Augen, versuche ich bewusst, den Druck der Zeit auszublenden. Ich gehe Schritt für Schritt, halte inne und betrachte all die Dinge ganz genau. Ich höre aufmerksam, fange die verschiedenen Gerüche ein und berühre vieles, um alles wahrhaftig zu spüren. In vielen dieser Momente erkenne ich das nahtlose Zusammenspiel von allem und wie wunderbar es ist. Selbst der Tod, wenn wir ihn von vorgefertigten Bewertungen befreien und ohne Urteil betrachten, kann eine gewisse Schönheit in sich tragen. Geburt und Tod teilen sich denselben Ort. Es existiert keine Geburt ohne den Tod und es gibt keinen Tod ohne die Geburt.
Das ich mich des Öfteren mit dem Tod beschäftige, mag für viele befremdlich erscheinen. Doch das ist kaum verwunderlich, wenn ich bedenke, wie viele Menschen ihn aus ihrem Leben verdrängen. Selbst jene, die uns lieb waren und längst gegangen sind, werden an Orten bestattet, an denen das wahre Leben nur selten Einzug hält. Vielleicht sollten wir einmal in Erwägung ziehen, ob es richtig ist, denjenigen, die zu laut und fröhlich feierten, an Orten des Gedenkens zu begegnen, wo die Stille künstlich wirkt und wo nur traurige Lieder erklingen, sofern sie denn gesungen werden.
Manchmal überkommt mich der Gedanke, dass der Tod mein ständiger Begleiter ist, mein Partner, der Tag und Nacht an meiner Seite wandelt. Für mich ist es in Ordnung so zu denken. Ich fürchte ihn nicht, sondern habe Respekt vor ihm. Oftmals erscheint er mir als die größte Quelle der Inspiration, als die geheimnisvolle Dunkelheit, die ich brauche, um meinem Leben einen tieferen Sinn zu verleihen, ein erfühltes Leben zu führen – ein Leben voller Liebe und Licht. Er ist es, der mir jegliche Erwartungen nimmt und mir zeigt, dass nichts, wirklich gar nichts, selbstverständlich ist. Es gab Zeiten, in denen eine tiefe Traurigkeit in mir aufkam und ich mich nach ihm sehnte, doch genau er zeigte mir, dass es noch so viele unerlebte Erfahrungen gibt. Der Tod ist es, der für mich die Balance schafft und mich das Leben in seiner ganzen Intensität spüren lässt.
Mit der Geburt tritt er an unsere Seite. Ich denke, dass dies einfach die Art und Weise ist, wie das Leben zu funktionieren scheint. Das Leben gleicht einer Achterbahnfahrt voller Höhen und Tiefen, einer wilden Reise ohne klare Linien. Es ist gefüllt mit Lektionen, die es zu lernen gilt, und immer wieder erleben wir Momente des Lichts sowie Augenblicke der Dunkelheit. Aus irgendeinem unbegreiflichen Grund versuche ich hier auf dieser Erde, die durch ein gigantisches und faszinierendes Universum fliegt, dieses Spiel des Gleichgewichtes zu spielen. Und während ich dieses Spiel spiele, habe ich begriffen, dass wir das Spiel des Lebens nicht gewinnen oder verlieren können. Wir können es nur spielen.