Fünfundsechzig.
Sigrun und Chandra saßen vor dem Gästehaus auf einer schlichten Holzbank. Der Himmel darüber war ein Farbenspiel: Polarlichter in hypnotischem Grün tanzten im Einklang mit dem schüchternen Silber des Mondes, der den Fjord in zartes Licht tauchte. Aus dem Fenster des Hauses strahlte ein warmes Leuchten, welches das Gras zu ihren Füßen berührte und es in einen glänzenden Smaragd verwandelte. „Du musst Deinen Nordstern finden“, sagte Sigrun mit einer Stimme, die die Kälte und Wärme des Nordens in sich trug. „Darauf kommt es an.“ Chandra blickte Sigrun tief in die Augen, versuchte den Sinn hinter den Worten zu erfassen. Ihr Blick trug eine Spur von Verwirrung. Sie fühlte, wie sich eine unerklärliche Leere in ihr ausbreitete, als wäre sie mitten in der Weite des nächtlichen Himmels, versuchend, ihren eigenen Nordstern zu erkennen.
In der Dunkelheit des Himmels verlieren wir uns oft in der Unendlichkeit der Sterne. Sie sind immer da, unaufhörlich, in ihrer schweigenden Präsenz. Es heißt, jeder sollte seinen eigenen Nordstern finden, sein Symbol für Weg, Anker und Zuversicht. In einer Welt, die uns anregt, mit der Masse zu gehen, wohin lenken wir unseren Blick? Dorthin, wo die Masse das Licht betrachtet? Vielleicht liegt die Wahrheit in der Abwesenheit. Dieser besondere Stern, er ist nicht dort zu finden, wo alle hinschauen. Er wartet geduldig an einem Ort, den nur wenige zu erkennen wagen.
Dieter Lange spricht oft über den Nordstern, aber nicht in einem astrologischen Sinn. Für ihn ist dieser Stern ein Leitbild für das tiefe Verständnis des Selbst. Jeder Mensch, so glaubt er, verfügt über einen inneren roten Faden, der sich durch die Komplexität des eigenen Lebens zieht, genau wie der Nordstern, der unbeirrt am Himmel steht und den Weg weist.
Dieser Faden kann sich durch Erfahrungen, Erinnerungen und Lektionen winden, manchmal verliert er sich im Dickicht der Verwirrung. Aber wie Lange betont, unabhängig von den Wendungen des Lebens, kehren wir immer wieder zu diesem Faden zurück. Er glaubt, dass, egal wie weit wir uns entfernen, dieser Faden uns zurückzieht, uns zentriert und uns erinnert, wer wir wirklich sind.
Am Ende dieses inneren Weges, dort, wo er endet oder vielleicht neu beginnt, hängt, wie Lange es sich vorstellt, ein Wimpel. Ein schlichtes, unbeschriebenes Stück Stoff, das darauf wartet, durch ein einziges Wort definiert zu werden. Ein Wort, das die Quintessenz unseres ganzen Lebens, der gesamten Reise, zusammenfasst. Die entscheidende Frage, die Lange uns stellt: Welches Wort würden wir wählen? Welches Wort könnte das gesamte Wesen unserer Person, die gesamte Tiefe unserer Erfahrung, einfangen? Welches Wort wäre unser Nordstern?
Ich erinnere mich: Inmitten der alten Ortschaft, am Rande des Dorfes, stand sie, die Grundschule, mit einer achtzigjährigen Geschichte, die in den verwitterten Ziegelmauern und in dem feinen Staub, der das Sonnenlicht in den Fluren brach, geschrieben war. Ihre Gänge waren Zeugen von Lachen und Tränen, gehaucht hinter der riesigen Tanne im Schulhof und den mächtigen Eichen ringsum.
Der Klassenraum war ein Relikt vergangener Zeiten, in dem das Holz von den Bänken und Tischen noch die Eindrücke von Generationen von Kindern trug. In diesem Raum teilten sich zwei Klassen unterschiedlicher Jahrgänge den Platz, als würden sie miteinander flüstern, über das, was war und das, was sein wird.
Draußen, von der Fülle des Winters umarmt, war der Himmel grau. Die Weihnachtsferien lagen in der Luft, mit ihrer süßen Versprechung von Schlittenfahrten und warmen Kakaotassen. Vor mir stand ein kleiner Holztisch, ein Schultisch – so einer, wie ihn die Alten in ihren Geschichten beschrieben. Ein Stuhl davor, auf dem ich, eingezwängt zwischen Träumen und Wirklichkeit, saß. Durch die großen Fenster, deren Scheiben an diesem Dezembertag mit Regentropfen beschlagen waren, hatte ich einen Blick auf den verlassenen Schulhof. Wie gern hätte ich von dicken, weißen Flocken erzählt, die sanft zur Erde tanzten, aber das wäre nur ein Bild aus einem Kinderbuch gewesen, nicht meine Wahrheit.
Am anderen Ende des Raumes saß sie, die Lehrerin, vor ihrem Pult. Ihre Miene verriet nichts. Um mich herum verloren sich die anderen Schüler in der Kunst des Schreibens. Wenn die Welt für einen Moment den Atem angehalten hätte, wäre das leise Kratzen der Füller auf dem rauen Papier das einzige Geräusch gewesen, welches die Stille durchbrach.
Doch ich, verloren zwischen den Linien meines Heftes, schaute hinaus, träumte von anderen Welten und Geschichten. Mein Füller lag regungslos. Der Moment, in dem die Worte wie ein Strom aus mir herausfließen würden, hatte sich noch nicht eingestellt. In mir fehlte der Funke, der alles entzünden würde. Und so wartete ich, zwischen den Tropfen und Träumen, auf den Moment, in dem die Worte zu mir kommen würden.
Mein erster Aufsatz, er glänzte wie ein sehr guter Jahrgang eines Weins. Und dann ein zweiter, derselben Güteklasse. In diesem Rhythmus der Worte fand ich meine Leidenschaft. In ihrer Verschmelzung entdeckte ich Welten, die mir Zahlen nie zeigen konnten. Doch wie es manchmal geschieht, wenn einfache Freude auf verkopfte Akademik trifft, kamen Zweifel.
Einige Jahre später, in der kühlen Aura eines anderen Klassenzimmers, erklärte mir eine Frau, die ihre Weisheit aus den Büchern der großen Denker zog, dass ich nicht schreiben könne. War es mein Stil, der sie störte? Die unkonventionelle Art, wie meine Sätze sich verbanden? Die Gründe für ihre Wahrheit liegen im Nebel der Zeit verborgen. Es mag sein, dass sie ihre Bildung wie eine Rüstung trug, undurchdringlich für alles, was nicht in ihr Weltbild passte. Sie hatte vielleicht einen geraden, festen Weg eingeschlagen, an dessen Ende ein präzises Ziel lag. Alles andere war Ablenkung, Abweichung, Irrtum.
Aber, wie es bei solchen Begegnungen ist, sie prägen uns, ohne uns zu definieren. Ihre Worte, einmal schwer wie Steine, sind mit der Zeit zu Kieselsteinen geworden, die ich an einem Flussufer zurückließ. Sie hatte ihren Weg, ich fand meinen eigenen. Ich habe ihr verziehen.
Wenn ich nun einen Stift ergreife und seine Spitze sanft auf das Band meines roten Wimpels setze, so erscheint dort stets dasselbe Wort: „Geschichten“. Diese Geschichten sind mein Leitstern, mein Kompass, mein Nordstern. Es sind Erzählungen, die das Leben in seiner reinsten Form abbilden. Ich bin überzeugt, dass Menschen, wie fein ausgewählte Buchstaben, bestimmt sind, sich zu Worten und schließlich zu Erzählungen zu verbinden. Geschichten helfen uns, das Gewirr der Welt zu entwirren. Und in meinem Inneren weiß ich, dass eine wahrhaftige Geschichte niemals stirbt.
Meine Entscheidung ist gefallen, geleitet vom strahlenden Licht meines Nordsterns. Mit ihr kommt das unvermeidliche Loslassen. Während ich dieser Tage die Zeilen von Chandras Geschichte festhalte, verabschiede ich mich von meiner Selbstständigkeit. Stattdessen kehre ich, wenn auch nur teilzeitlich, in den Schoß eines Angestelltenverhältnisses zurück – eine Wahl, die mir den Freiraum lässt, mich meiner wahren Leidenschaft hinzugeben. Denn im stetigen Fluss des Lebens verlangt jeder Neubeginn nach einem Abschied. Und in dieser unaufhörlichen Bewegung verschmelzen Abschied und Anfang in einer leidenschaftlichen Umarmung der Liebe zum Neuen.
Bild: Midjourney