Einundvierzig.

Gestern versank ich wieder einmal in meinen Gedanken, das Smartphone fest in meiner Hand. Ich durchblätterte die unzähligen Kurzvideos, die mir auf dem Bildschirm präsentiert wurden, ohne wirklich wachsam zu sein. In einem dieser Videos hörte ich jemanden über Musik sprechen und wie sich ihr Konsum im Laufe der Zeit verändert hat. Die genauen Worte, die dieser mir Unbekannte von sich gab, kann ich nicht wiedergeben. Doch einer seiner Sätze blieb in meiner Erinnerung haften: 

„Irgendwann brannte ich meine letzte CD und wusste es nicht.“  

Nachdem dieser Satz meine Gedanken festgehalten hatte, legte ich das Gerät behutsam beiseite und begab mich daraufhin auf einen Spaziergang. Es ist eine beinahe tägliche Routine für mich, bei der ich stets den gleichen Weg wähle, dieselbe Route, immer wieder. Ich kenne diese Strecke in- und auswendig. Jeder Baum, jedes Feld, jede Kreuzung sind mir vertraut. Obwohl es möglich ist, stets etwas Neues zu entdecken, fixiere ich meinen Blick stets auf die Straße, auf jeden einzelnen Schritt. Mag dies auf den ersten Blick auch eintönig erscheinen, so ist es doch gerade diese Konzentration, die mir hilft meine Gedanken zu ordnen. 

Wie oft schon habe ich etwas getan, ohne zu wissen, dass es das letzte Mal sein würde? Wie oft schon sind meine Worte verklungen, ohne mir bewusst zu sein, dass sie das letzte Mal aus meinem Mund in jene Richtung drangen? Und wie oft wird es mir noch geschehen? Eines Tages, so überlegte ich, würde ich diese gewohnte Runde zum letzten Mal gehen, mein letztes Abendessen einnehmen und den Blick zum letzten Mal gen Himmel richten, die Sterne betrachten, ohne zu ahnen, dass es das letzte Mal sein wird. Es wird einen Tag geben, an dem die Bedeutung des Satzes „Bis morgen“ verblassen wird, denn es wird kein neuer Morgen kommen.

Später stieß ich auf einen alten Bekannten, eine Begegnung, die mehr dem Zufall als einem bewussten Plan geschuldet war. Unsere kurze Unterhaltung drehte sich um einen gemeinsamen Freund, der vor langer Zeit von uns ging. Ich erzählte ihm von dem Video, von jenem Satz, der eine so universelle Bedeutung in sich trug. Es ist erstaunlich, wie oft wir Menschen, die uns ans Herz gewachsen sind, zum letzten Mal sehen, ohne es zu wissen. Vielleicht nehmen wir diese Menschen ein letztes Mal in den Arm, lauschen zum letzten Mal ihren Stimmen, blicken Ihnen für fünf kostbare Minuten in die Augen, die uns immer schon so vertraut erschienen. Bei diesen Gedanken neigen wir dazu anzunehmen, dass sie es sind, die für immer verschwinden können. Doch vergessen wir jedoch allzu leicht, dass wir es sein könnten, die gehen werden. 

Ich denke, das ist es, was die Zeit hier so kostbar macht – ihre Begrenztheit. Gewiss, wir können glauben, dass das Leben nach dem Tod eine Fortsetzung findet, wenn uns das Trost spendet. Doch in Wahrheit können wir nicht mit absoluter Sicherheit sagen, ob es wahr ist. Wenn wir jedoch begreifen, dass der Moment kommt, an dem wir keinerlei Optionen mehr haben, an dem alles, was wir bislang getan haben, nicht mehr möglich sein wird, erkennen wir den wahren Wert des Lebens. Deshalb sollten wir alles, was wir lieben, mit Leidenschaft verfolgen. Wir sollten lernen, die wenigen Jahre, die uns gegeben sind, zu schätzen, denn sie sind das Einzige, was wirklich existiert.

Während ich diese Worte tippe, wird mir bewusst, dass ich selbst viele Fehler begangen habe. Ich war nie der Typ, der sich regelmäßig meldete. Es fiel mir immer schwer, zu fragen. Die Angst vor Ablehnung und das Gefühl, sowohl zu viel als auch zu wenig zu sein, haben mich stets begleitet. Ich blieb lieber im Schweigen, um den Schmerz nicht ertragen zu müssen. Dennoch ist mir klar geworden, dass ich einiges verloren habe, was heute nicht mehr rückgängig zu machen ist. Aber das ist in Ordnung. Ich glaube, ich habe Frieden gefunden, irgendwo in mir selbst.

Anstatt erneut in meinen Gedanken zu versinken und mich in einer Fülle unbedeutender Videos und Geschichten zu verlieren, entscheide ich mich dazu, mein Smartphone zur Seite zu legen. Draußen präsentiert sich der Himmel in einem strahlenden Lachen, gekleidet in sein schönstes Blau. Meine Schuhe lächeln mir zu und laden mich ein, einen Spaziergang zu unternehmen. Es wird dieselbe Runde sein wie immer. Dieselbe Strecke mit den vertrauten Bäumen, Feldern und Kreuzungen. Doch diesmal lasse ich meinen Blick nicht auf den Weg gerichtet sein. Diesmal richte ich meine Aufmerksamkeit auf das Laub, das zart an den Zweigen schimmert, auf die Vögel, die ihre Lieder in den Bäumen trällern, auf die Ähren des Getreides, die sanft im leichten Wind hin und her wiegen. Ich werde diesen Weg gehen, als wäre es das allererste Mal. Wer kann mit wirklicher Gewissheit sagen, ob es nicht das letzte Mal sein wird?