Dreiundvierzig

Sie meldete sich, eine flüchtige Online-Bekanntschaft, die ihr Zuhause in der Nähe hatte, und fragte mich jüngst, ob sie mich bei meinen Streifzügen durch Wald und Flur einmal begleiten dürfte. Ich muss gestehen, dass ich sie bis dahin nicht kannte und selbst wenn ich sie gekannt hätte, wäre meine Antwort unverändert gewesen: „Nein“. Es ist nicht boshaft oder verächtlich gemeint, es ist einfach so, dass ich am liebsten allein meine Wege ziehe. Nur wenige Menschen kämen für mich in Frage, bei denen ich eine Ausnahme machen würde und meistens, nicht immer, sind es Jägerinnen oder Jäger, die mich mitnehmen. Ein Umstand, über den ich äußerst dankbar bin. Warum? Darauf werde ich später noch zu sprechen kommen.

Die meisten Leute, nicht alle, buchstabieren das Wort Freizeit wie selbstverständlich mit denselben Buchstaben, die sie für das Wort Freundeszeit verwenden würden. Kaum jemand möchte wirklich allein sein. Es muss ständig etwas los sein. Und diejenigen, die ihre freie Zeit lieber für sich allein verbringen möchten, werden oftmals als Sonderlinge abgestempelt. Dies erkenne ich manchmal an den merkwürdigen Blicken, die mir zugeworfen werden, wenn ich erzähle, dass ich am liebste ganz ohne Begleitung durch die Welt streife. Als ich neulich eine Story auf Instagram postete und gedankenlos dazu schrieb, was es Schöneres gäbe, als abends allein durchs Feld zu spazieren, meldeten sich sofort einige und meinten, dass es zu zweit schöner sei. Das sehe ich ehrlich gesagt nicht so und frage mich manchmal, warum nicht mehr Menschen es einfach mal ausprobieren, ihre Zeit nur mit sich selbst zu verbringen. 

Soweit es mir möglich ist, zieht es mich Jahr für Jahr in die Lüneburger Heide. Meist gegen Ende des Sommers. Manchmal habe ich das Glück, die Heide in voller Blüte zu erleben. Manchmal beobachte ich den Nebel, der durch das Wachholdergebüsch zieht. Am liebsten bin ich frühmorgens dort, noch bevor die Sonne sich am Horizont zeigt. Da ich gut zwei Stunden Fahrtzeit benötige, bedeutet das, spätestens um drei Uhr, drei Uhr dreißig, loszufahren. Nur dann habe ich genug Zeit, das Fahrzeug abzustellen und mir einen einsamen Ort zwischen Heide und Wachholder zu suchen. Das Schöne daran ist, dass ich zu dieser Zeit wirklich ganz allein in der Heide bin. Nur äußerst selten, wirklich selten, treffe ich auf andere Menschen. In all den Jahren waren es zu jener Zeit vielleicht zwei. Oder drei.

Draußen als Gesprächstherapie 

Ganz anders gestaltet sich die Situation, wenn ich meine Wanderung nach der Mittagszeit beende und den Heimweg antrete. Unzählige Menschen tummeln sich dort. Zu Fuß, auf dem Fahrrad, mit Pferdekutschen. Die Lüneburger Heide ist ein regelrechter Touristenmagnet und das lässt sich nicht übersehen. Oftmals blicke ich auf meinem Rückweg in die Gesichter derer, die mir entgegen kommen. Viele von ihnen wirken verbissen und beinahe schon gestresst. Sie streiten sich über den richtigen Weg, studieren gemeinsam die Hinweisschilder, und hin und wieder schimpft einer auf den anderen, dass er es doch gleich gesagt habe, dass sie einen anderen Pfad hätten einschlagen sollen, um ihr Ziel zu erreichen.

Und dann sind da noch die Gespräche. Für viele Menschen scheint eine Wanderung beinahe wir eine Art Therapiesitzung zu sein, in der sie mit ihren Mitmenschen über allerlei Dinge reden müssen oder wollen. Ich unterhalte mich gerne mit Menschen, höre ihnen gerne zu. Doch nicht draußen. Am liebsten möchte ich dort auf andere Dinge achten, andere Klänge vernehmen. Das jedoch ist nicht möglich, wenn mir jemand ununterbrochen und ausführlich von den Problemen während der Arbeit oder im Freundeskreis erzählt. 

Mit Jägerinnen und Jägern unterwegs zu sein, verläuft anders. Es beginnt schon mit der Art und Weise, wie sie ihre Autotüren schließen. Anstatt sie wie Panzer zu behandeln, schließen sie sie leise und behutsam. Ich erinnere mich gerne an einen Abend im frühen Herbst, als ich mit einer Jägerin die letzten Stunden des Tages im Wald verbringen durfte. Bevor sie aus dem Wagen stieg, sagte sie zu mir: „Und ab jetzt hältst Du für eine ganze Weile einfach die Klappe.“ 

Wir stiegen aus, schlossen die Türen, als wären sie aus Glas und schritten behutsam über den Waldboden. Als wir jenen Hochsitz erreichten, nahmen wir Platz und kommunizierten, wenn überhaupt, nur mit Blicken und Körpersprache. Lange Zeit geschah nichts, doch irgendwann tauchte ein Rudel Damwild auf der Lichtung auf. Wir beobachteten die Tiere schweigend und verließen den Platz erst, als die Tiere weitergezogen waren und die alles verschluckende Dunkelheit sich über den Wald gelegt hatte. Wie lange wir kein Wort gesprochen hatten? Es mögen zwei oder drei gewesen sein. 

Nein. Draußen möchte ich stumm staunen. Ich möchte sehen, hören, riechen und manchmal sogar fühlen. Ich möchte meinen eigenen Gedanken nachhängen und im Dialog mit dem wichtigsten Menschen in meinem Leben stehen – mir selbst. Nur allein habe ich die Möglichkeit, mir selbst zuzuhören und mich besser kennenzulernen. Ich allein möchte das Tempo bestimmen, frei gehen, frei verweilen, ohne ständig auf das unablässige Piepen eines imaginären Distanzmessers achten zu müssen. In Gesellschaft draußen zu sein erfordert oft Diplomatie und Vereinbarungen und im schlimmsten Fall ist am Ende jemand enttäuscht.

Und das Alleinsein hat einen entscheidenden Vorteil: Kürzlich las ich in einem Online-Artikel, dass ein Wanderer vor den Augen seiner Mitmenschen von einem Wildschwein angegriffen wurde. Es muss ein erschreckender und vielleicht sogar ein grausamer Anblick gewesen sein. Glücklicherweise kann mir so etwas nicht passieren, da ich oft allein unterwegs bin.