Dreiundsechzig.

In der Schwärze der Nacht, als alles um sie herum in der Versenkung des Dunkels eintauchte, brach nur das verschwommene Antlitz des Mondes durch und zeichnete sich wie ein verschleiertes Gemälde auf dem See ab. Das silbrige Licht, das die Oberfläche des Wassers streichelte, brachte die Seerosenblätter zum flüstern. Es gab ihnen das schattenhafte Leben eines Traumbildes in einem ansonsten farblosen Kosmos.

Chandra saß reglos am Rande dieses Sees, verloren in der Unendlichkeit ihrer Gedanken und den Abgründen ihrer Seele. Sie spürte, wie die Welt sie zu verschlucken drohte, wie ihr Innerstes in den überwältigenden Lärm des Lebens eingedrungen war. Ihre Gefühle waren wie der stumme Schrei eines Kindes, das in der Masse verloren geht, während es nach seiner Mutter ruft.

Ihre Liebe, einmal so tief und unverrückbar wie ein uralter Baum, hatte mit ihm begonnen, dem Jungen aus ihrer Kindheit, dem Spielgefährten, der später zum Mittelpunkt ihrer Welt wurde. Doch nun war diese Liebe zerstört, zerrissen wie ein altes Gemälde von einem Sturm der Zeit und des Schicksals. Das Echo dieser Zerstörung hallte in ihrem Inneren wider, ein stetiger, pulsierender Schmerz, der sie an das Unausweichliche der menschlichen Existenz erinnerte. Leidenschaft und Leid, so eng miteinander verflochten. In dieser andächtigen Stille, als die Welt sich um sie schloss, fühlte sie die Schwere der Melancholie, die sie umhüllte wie ein Mantel aus kühlem Nebel. Ein Kleidungsstück, das zwar ihr gebrochenes Herz bedeckte, es aber nicht zu wärmen vermochte.

In einem flüchtigen Moment, als Chandra ihren Kopf hob und zu den Sternen aufblickte, suchend nach Antworten im unendlichen Firmament, schnitt die majestätische Schönheit einer Schneeeule die Dunkelheit. Ein kurzer, flüchtiger Augenblick des Lebens, so leicht zu übersehen, und doch so gewaltig in seiner Bedeutung. Aber Chandra, so verloren in ihrer eigenen Welt des Schmerzes, erkannte dieses Geschenk nicht. Eine schneeweiße Feder fiel leise herab und legte sich sanft auf den Boden neben Chandra. In diesem unschuldigen Relikt erkannte sie erst später die verpasste Gelegenheit, die sie übersehen hatte. Und doch deutete sie die Feder der Eule als Zeichen einer aufkeimenden Hoffnung.

Mit vorsichtiger Ehrfurcht hielt Chandra die weiße Feder zwischen ihren Fingern, als sei sie das letzte Relikt einer längst vergangenen Welt. Sie fühlte, wie ihre Energie nachließ, wie die Müdigkeit langsam, aber unaufhaltsam, wie Schatten über ein Tal, über sie kroch. Trotz des ungeeigneten Ortes und ihrer sonst wachen Natur überkam sie der Schlaf direkt am Ufer des Sees, wie ein plötzlicher, tiefer Nebel, der das Land heimsucht.

Und in diesem tiefen Schlaf tauchte der Mond wieder vor ihr auf, diesmal nicht in der Realität, sondern in den wirren Traumlandschaften ihres Geistes. Sie sah ihn, wie er über verschiedene Horizonte hinwegzog, über Bergspitzen und durch die Zweige alter Bäume. Einmal stand sie im Herzen von Paris und blickte hinauf, wie der Mond schüchtern hinter dem Eifelturm hervorlugte, dann sah sie ihn durch die Fenster alter Gemäuer, die Geschichten aus Zeiten erzählten, die sie nie gekannt hatte.

Und durch all diese Träume, durch alle diese Szenen, zog sich ein leises Flüstern, wie ein zarter Windhauch: „Wo das Leid seinen Ursprung fand, findet die Seele selten Trost.“ Diese Worte hallten in ihrem Geist wider, immer wieder, in einer endlosen Schleife, bis sie zu einem Mantra wurden, das sie nicht ignorieren konnte.

Als Chandra die Augen öffnete, spürte sie das leichte Gewicht der Feder in ihrer Hand und das sanfte Zupfen der Morgensonne auf ihrer Haut. Eine Erkenntnis durchbrach die Frische des Morgens. Der Ort, der in ihr so viel Kummer und Schwermut geweckt hatte, musste nun in der Vergangenheit ruhen. Es war an der Zeit, sich fortzubewegen, nicht bloß in Raum und Zeit, sondern in einer tieferen Reise, die die Konturen ihrer Seele und ihres Herzens berührte.


Jeder Winkel unseres Universums erzählt stumm seine Geschichten. Sie liegen nicht nur in den dicken Büchern alter Bibliotheken, sondern in jedem flüchtigen Moment, der uns begegnet. Betrachte das Blatt einer Seerose, wie es auf der glatten Wasseroberfläche ruht. Oder das silbrige Glimmen des Mondes, das sich zärtlich im stillen Teich spiegelt, als würde der Himmel den Erdboden küssen.

Einige Schritte weiter, im goldenen Licht der Morgensonne, siehst du ein zartes Reh, das mit anmutiger Grazie über ein offenes Feld tänzelt, während es an den jungen Grashalmen knabbert. Und dann, auf einer verwitterten Parkbank, sitzt eine alte Frau. Ihr Blick verloren in Erinnerungen. Vielleicht denkt sie an die Zeit, als sie jung war, an die Menschen, die sie liebte, an die Momente, die sie vergessen möchte.

In den belebten Straßen der Stadt läufst du an einem Geschäftsmann vorbei. Sein Anzug ist makellos, seine Schuhe glänzen, aber seine Augen? Sie sind von der Erschöpfung getrübt, verfangen in einem Netz aus Zahlen, Deadlines und unerledigten Geschäften. Er, so vertieft in seine Gedanken, nimmt dich nicht einmal wahr, geschweige denn den Sonnenaufgang, den er seit Jahren nicht gesehen hat. Er zieht an dir vorbei, ein Gefangener seiner eigenen Getriebenheit.

Und dort, in der Menge, eine Frau. Ihr Kleid, kunstvoll geschnitten und aus feinem Stoff, trägt ein Label, das im Licht schimmert und funkelt. Für sie ist dieses Label nicht nur ein Zeichen von Mode oder Qualität, sondern ein Symbol, das, wie sie hofft, ihr die Türen zu Glück, Anerkennung und vielleicht sogar zu wahrer Zuneigung öffnen kann. Doch hinter dem schillernden Emblem, das sie so stolz zur Schau stellt, liegt eine Tiefe, in der sich eine Sehnsucht verbirgt. Eine Sehnsucht, die in ihren stillsten Momenten, wenn sie alleine ist und die Welt sich zurückzieht, zum Vorschein kommt. Es ist eine Sehnsucht, die in ihrer Intensität fast greifbar ist, und dennoch bleibt sie unausgesprochen, verborgen hinter der glänzenden Fassade, die sie der Welt präsentiert.

Jeder Moment, jede Begegnung, birgt eine Geschichte in sich. Manche erzählen von Freude, andere von Trauer. Einige sind voller Hoffnung, andere zeigen unsere Verletzlichkeit. Doch so unzählig diese Geschichten auch sind, kein Leben, egal wie lang und erfüllt es sein mag, könnte jemals ausreichen, sie alle zu erzählen.

Daher ist es wichtig, dass wir uns auf die Geschichten konzentrieren, die vom Glück erzählen. Es sind die Geschichten, die das Echo von Hoffnung und Entschlossenheit in sich tragen, Geschichten von jenen, die das Gefühl von Glück nicht nur suchen, sondern danach hungern. Es sind Berichte von Menschen – Pionieren, tapferen Frauen und mutigen Männern – die sich dazu entscheiden, die Reise anzutreten, selbst wenn der Pfad vor ihnen rau, unversöhnlich oder sogar unsichtbar ist.

Man kann sich die Fußspuren dieser Entdecker vorstellen, die sich tief in das unbekannte Terrain eingraben, ihre Markierungen als stille Zeugen ihrer Entschlossenheit hinterlassend. Anfangs mag die Welt über sie spotten, ihre Visionen als Hirngespinste abtun. Doch mit der Zeit, während sie unermüdlich voranschreiten, verwandelt sich das Lachen in Staunen. Und schließlich, wenn der Staub sich legt und ihre Wege klar und deutlich vor uns liegen, werden diese Pfade von vielen anderen begangen, ihre Geschichten nicht mehr nur erzählt, sondern auch gelebt und weitergegeben. Es sind solche Erzählungen, die unsere Welt formen, inspirieren und letztlich die Vorlage für kommende Generationen liefern.

In der schier unendlichen Kette von Geschichten, die sich um uns herum entfalten, wird die Bedeutung des Mutes und der Entschlossenheit deutlich. Deshalb müssen wir jene, die sich abseits des Gewohnten wagen, jene, die sich trauen, andere Pfade zu betreten, mit Respekt und Anerkennung begegnen, statt sie zu belächeln oder zu verurteilen. Diejenigen, die sich trotz der Angst vor dem Versagen hervorwagen, verdienen unsere Unterstützung und Ermutigung.

Für uns ist an der Zeit, dass wir uns selbst in einem anderen Licht sehen, uns an unsere eigene Stärke und unseren eigenen Wert erinnern. Zu oft neigen wir dazu, unsere eigenen Fähigkeiten und Potenziale herunterzuspielen, aus Angst, zu groß zu träumen oder zu versagen. Aber tief in uns schlummert eine Kraft, so alt wie die Zeit selbst, ein göttlicher Funke, der uns die Fähigkeit verleiht, unsere eigene Realität zu gestalten und Wunder zu vollbringen.

Wir dürfen nicht vergessen: Wachstum und Erkenntnis entstehen nicht aus den Momenten, in denen alles reibungslos verläuft. Es sind die Stolpersteine, die Misserfolge, die uns lehren, besser zu werden. Wir müssen sein, ehe wir uns weiterentwickeln und wachsen können. Dies war immer so und wird es immer bleiben. In jeder Ära, in jedem Zeitalter, hat sich diese Wahrheit immer wieder bewiesen. Es liegt an uns, sie anzunehmen und danach zu handeln.

ZWISCHENTÖNE – der leise Klang des Lebens

In diesem Buch findest Du dreizehn Geschichten. Vielleicht nicht immer durch und durch realistisch, manchmal mit einem Hauch Fantasie. Doch jede von ihnen, ob in den Tiefen der Realität verwurzelt oder von Fantasie getränkt, hat ihren Kern, ihre Essenz. Und wenn Du beim Lesen auf eine Wahrheit stößt, die Dir vertraut vorkommt, dann betrachte sie als das, was sie wirklich ist:

Ein Geschenk an Dich.

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