Dreiundfünfzig.

Weit entfernt von allen Städten, in einem Dörfchen, das von üppigen Wäldern und bescheidenen Ackerflächen umschlossen wurde, lebten einige Bauernfamilien. Sie zählten nur wenige – kaum eine Handvoll. Ein kleines Dorf, dessen Höfe um eine altehrwürdige Kirche herum angeordnet waren, nahezu im perfekten Kreis. Die Dorfbewohner zeichnete ihre Bescheidenheit aus, ihr Bedarf minimal, meist durch eigenhändige Arbeit gedeckt. Jedes Frühjahr formten sie ihre Felder, pflegten sie in der Hitze des Sommers, und im Herbst ernteten sie. Unter ihnen gab es Viehbauern, Schweinehalter und Hühnerzüchter. Sie tauschten und existierten zufrieden in ihrer eigenen, kleinen Welt.

Doch in einem Jahr blieb der Sommer ohne den gewohnten Regen, der sich sonst wie eine sanfte Melodie auf die Felder legte. Ein regenloser Sommer, der die Felder allmählich in eine karge Landschaft verwandelte. Sorge hielt Einzug in die Herzen der Bauern, die den langsamen Tod ihrer Pflanzen beobachten mussten. Der Dorfälteste, seine Falten ein Atlas der Geschichte, rief die Einwohner zu einem gemeinsamen Gebet in der Kirche auf.

An dem vorbestimmten Tag füllten die Stimmen der Gemeinschaft die alte Kirche. Sie kamen alle – Alt und Jung, Gesund und Gebrechlich, Männer, Frauen und Kinder. Die vertraute Stille der Kirche wurde durch das Flüstern der Gemeinde unterbrochen. Gerade als der Dorfpriester den Raum mit seinem Gebet erfüllen wollte, öffnete sich die Tür. Die Köpfe wandten sich, Blicke suchten den verspäteten Ankömmling. Es war ein kleiner Junge, seine Füße in Gummistiefeln, einen Regenschirm in der rechten Hand, eine Regenjacke unter dem linken Arm. „Entschuldigung“  , sagte der Junge mit einer Unschuld, die nur die Jugend kennt, „Ich hatte meinen Schirm vergessen.“ In der Kirche brach Gelächter aus, denn draußen erfüllte die unerbittliche Sonne den Tag. Es gab kein Anzeichen von Regen. Und doch war dieser Junge der einzige im Raum, der wahrhaftig glaubte.


In der Stille der Morgenstunden klappert es vor dem Haus. Ein Müllwagen, fast das einzige Fahrzeug in dieser leeren Straße. Das erste Licht der Sonne bricht durch, küsst vorsichtig das frische Grün der Eiche. Im Schatten des Gartens, abgewandt vom Geschehen, beschäftige ich mich mit Talko. Ein rhythmisches Klopfen unterbricht die Ruhe. Ein Specht, methodisch, fast mechanisch. Ich denke an die Schlichtheit seines Daseins, übersehend, dass seine Existenz vielleicht nicht so sorglos ist, wie ich mir einbilde. Er bemerkt meine Anwesenheit und fliegt weg, als würde er seine Verletzlichkeit verbergen wollen. Talko, der bis vor kurzem meiner Führung gefolgt war, beschnuppert die Erde. Das Training, zumindest für heute, scheint beendet zu sein. In diesem Augenblick wird mir klar, wie flüchtig und zugleich bedeutsam diese kleinen Momente des Lebens sind.

Der Kaffeeduft durchdringt das Büro, ein Labyrinth von Noten, die sich einer einfachen Definition entziehen. Ich schiebe das Fenster auf, die gestrige Schwere hängt in der Luft, wie ein verspätetes Echo. Für einen Moment lasse ich mich in den vertrauten Ohrensessel sinken, gebe meinen Gedanken Raum. Meine Arme verschließen sich vor meiner Brust, ein leises „Interessant“ entweicht meinen Lippen. Es ist, als betrachte ich ein Karussell aus der Ferne. Es gibt nur eine Methode, diesem endlosen Wirbel im Kopf zu entkommen: Abstand nehmen. Ich beobachte diesen Gedankenstrom und spüre, vielleicht mit einem Anflug von Wehmut, dass ich niemals der Junge in den Gummistiefeln gewesen bin.

Die Geschichte des Jungen handelt von einem unerschütterlichen Glauben an ein höheres Wesen, welches die Geschicke der Menschen zu lenken scheint. Diesen Glauben kenne ich nicht mehr, die Kirche und ihre Doktrinen habe ich hinter mir gelassen. Doch ich beneide jene, die in solchen Lehren Trost und Hoffnung finden. Jeder sollte das glauben dürfen, was er für wahr hält. Mein Glaube hat eine andere Form, und dennoch sehne ich mich danach, die Unerschütterlichkeit des Jungen zu besitzen. Nicht im Glauben an ein übergeordnetes Schicksal, sondern an die eigene Fähigkeit, mein Leben zu steuern. Aber oft wird diese Gewissheit von Zweifeln und der Angst, nicht genug zu sein, überschattet.

In dieser Dunkelheit, wo Zweifel und Furcht sich niederlassen, blinkt unerwartet ein Licht auf – ein leuchtender Funke im Schatten. Dieser Funke lässt uns über unsere Ängste steigen und das scheinbar Unerreichbare ins Auge fassen. Mut. Er bedeutet nicht das Fehlen von Angst, sondern die Courage, ihr entgegenzutreten. Jeder Schritt, den wir wagen, führt uns direkt durch sie hindurch. Dieser Mut treibt uns an, uns zu erheben, das Unbekannte zu erforschen. Er ist nicht monumental, sondern zeigt sich in zarten, doch entschlossenen Bewegungen. Er leitet uns durch die komplexen Labyrinthe des Lebens und offenbart, dass unsere Möglichkeiten fast unbegrenzt sind, wenn wir nur den Mut haben, sie zu erkunden. Er steht uns zur Seite, wenn wir in unerforschte Tiefen tauchen, auf der Suche nach unserer wahren Bestimmung.

Doch nun sitze ich hier, vor diesen Worten, und zweifle. Sind die Sätze zu gewollt, die Formulierungen zu überladen? Wie viele Texte habe ich bereits so verfasst und nie gezeigt, überzeugt von ihrer Unzulänglichkeit? Selbst bei dem, was ich als Roman betrachtete, fragte ich mich ständig, ob er den Erwartungen anderer entspricht. Ich schrieb für andere, in der Hoffnung, ihre Zustimmung zu finden. Aber sie blieb aus, besonders von denen, deren Meinung Gewicht hatte. Und nun sitze ich hier, an diesem Text und frage mich selbst, ob die Formulierungen und Sätze nicht zu hochgegriffen sind. Ich stelle mich selbst in Frage und denke, so schreibt doch niemand. Wie oft schon habe ich einen derartigen Text geschrieben, den nie jemand zu lesen bekam, da ich selbst in der Annahme gefangen war, er sei nicht gut. Und selbst das, was ich als Roman ansah, schrieb ich immer mit dem Gedanken, wie andere Menschen ihn schreiben würden, was andere Menschen erwarten könnten. Ich schrieb und schrieb, aber nie für mich, sondern immer so, dass das, was ich schrieb, anderen gefallen könnte. Aber das tat es nicht, nicht jenen, die am Ende in der Entscheidungsgewalt waren. Nach einigen Rückschlägen verwarf ich alles, und die Schwere des Zweifels lastete auf mir.

In einer Ära, in der Oberflächlichkeit herrscht und Erfolg als das höchste Gut gefeiert wird, fällt es schwer, Misserfolge zuzugeben. In einer Zeit, in der Unternehmenslenker das Mantra des Profits verkünden und dabei Zustimmung ernten, als hätten sie das Wesentliche entdeckt, wird die Ehrlichkeit zur Seltenheit. Vielleicht führt diese Haltung dazu, dass Menschen verstummen, aus Angst, durch das Eingestehen von Fehlern an Wert zu verlieren. Doch in jeder Zerstörung verbirgt sich eine Chance. Jeder Bruch führt uns zu einer Transformation. Jede Zerstörung weist den Weg zur Veränderung. Erst im Verzicht auf unser altes Selbst können wir uns zu dem formen, was wir noch werden könnten. Zur besten Version von uns selbst.

Ich höre nun die Stimmen fragen, warum man solch private Gedanken öffentlich im Internet teilt. Meine Antwort ist schlicht: Mut. Denn Mut bedeutet nicht nur, etwas zu riskieren, sondern auch, anders zu sein. Anderssein ist keine Schwäche. Anderssein unterstreicht, dass man den Mut aufbringt, seiner eigenen Wahrheit treu zu bleiben, ungeachtet dessen, was andere denken mögen.

Talko ruht, erschöpft vom Morgen, auf dem Teppich. Während meine Gedanken sich verzweigten, kühlte mein Kaffee aus. Jetzt, nur lauwarm, trinke ich ihn, als ich diese Worte festhalte. Draußen verdunkelt sich der Himmel, bald wird es wohl regnen. Und wenn ich später in der Küche stehe, um einen weiteren Kaffee zu machen, werde ich nachdenken, wo ich die Sonnencreme gelassen habe.