Dreißig
Schwere Wolken hängen über dem Fluss. Sie künden Regen an, der fallen wird. Gemächlich und unbeeindruckt, von dem, was kommen wird, spaziere ich am Ufer entlang. Selbst die Tatsache, an diesem Tag das falsche Schuhwerk gewählt zu haben, lässt mich kalt. Es sind nur Schuhe. Der Dreck, der an ihnen haften wird, lässt sich abwaschen. Vielleicht bleiben Spuren zurück. Doch sind diese nicht mehr als Geschichten der Vergangenheit, die ohnehin nicht existent ist. Loslassen. Ablösen. Wenn ich das Auto in die Werkstatt bringe, weil die Bremsen defekt sind, fragt niemand, wie das geschehen konnte. Dinge geschehe. Das Geheimnis ist, alles im Leben willkommen zu heißen und es sich gleichzeitig bewusst zu machen, dass es nicht für immer sein wird. Alles, was einen Anfang hat, findet ein Ende. Auch der Regen.
Das Dumme ist nur, wir klammern uns gerne an die Dinge, die uns Freude bereiten. Wir halten die Dinge fest, die uns am Herzen liegen, die in uns keinen Schmerz verursachen. Allerdings entspricht dieses Festhalten in keiner Weise der Natur des Lebens, denn das Leben an sich ist unbeständig. Leben heißt Veränderung. Es verläuft nie geradlinig, sondern stets in Kurven. Sie gehen auf- und abwärts. Das Leben beschert uns Höhe- und Tiefpunkte und wer versucht ist, stets an den Höhepunkten festzuhalten, wird sich immer wieder selbst Schmerz zufügen. Loslassen ist das Einzige, was wirklich hilft. Doch etwas oder jemanden loszulassen, bedeutet nicht gleichzeitig die Verbindung aufzugeben. Gerade in Bezug auf die Menschen, von denen wir glauben sie wirklich aufrichtig und bedingungslos zu lieben, ist loslassen manchmal der größte und einzige Beweis für die tiefe Liebe, die wir zu ihnen empfinden. Liebe bedeutet nämlich nichts anderes, als der bedingungslose Wunsch das Leuchten des anderen zu stärken. Und wenn wir diesem Leuchten im Weg stehen, ist es die richtige Entscheidung aus dem Weg zu gehen.
Ein Moment der Unachtsamkeit. Ein falscher Schritt. Ein kleines Wasserloch am Ufer. Sogleich merke ich, wie sich der linke Schuh mit kaltem Wasser füllt. Der Socken ist nass und klebt unangenehm an der Haut. Ein paar Meter entfernt, ragt ein Pfahl aus dem Boden. An diesem halte ich mich fest, ziehe den Schuh aus und schütte das Wasser hinaus. Der Socken, als auch der Fuß, bleibt nass. Für einen kurzen Augenblick überlege ich, den Socken ebenfalls auszuziehen. Doch was würde das ändern. Gerade in Anbetracht der Tatsache, dass Regen einsetzt und ich ohnehin in wenigen Momenten komplett nass sein werde. Bei dem Gedanken daran, muss ich laut lachen. Ich wusste doch, dass der Regen kommen wird. Es war meine Entscheidung ihm entgegenzugehen. Von Pech oder schuld kann da keine Rede sein. Ohnehin sind wir zu sehr damit beschäftigt, all das, was uns widerfährt in Gut und Böse zu unterteilen. Als wären wir Richterinnen oder Richter, als wäre es unsere tägliche Aufgabe. Doch ehrlich gesagt, das ist es nicht, das war es nie und wird es niemals werden.
Später werde ich die nassen Kleidungsstücke ausziehen, unter die Dusche springen und mir im Anschluss trockene Sachen anziehen. Wahrscheinlich werde ich eine Waschmaschine anstellen, mir etwas zu trinken mit an den Schreibtisch nehmen und meine Aufgaben erledigen. Diese Gedanken lege ich aber zunächst zur Seite und verliere mich bewusst in meinen Tagträumen. Ein sonniger Tag am Fluss, eine Portion Pommes in der Hand, mit den Fingern essen, Finger an den Schläfen, gefrorene Weintrauben an einem heißen Sommertag und der Wunsch nach Ruhe, der etwas Melancholie in sich trägt. Fünf Minuten. Manche Erinnerungen bleiben als Schätze im Herzen. Selbst dann, oder gerade obwohl, alles irgendwann endet.