„Weinend, verzweifelt, hoffnungslos saß ich am Rand einer Welt, die mir keinen Halt mehr bot. Nichts, was Trost spenden wollte. Nichts, das stützen konnte. Würde ich aufstehen, würde ich fallen. Meine Beine konnten mich nicht tragen. Meine Hände nach nichts greifen. Wo einst die Hoffnung war, hatte der Schmerz sich breit gemacht und der Faden der Erinnerung, von dem ich glaubte, er könne mich zusammenhalten, war zerrissen. Die Dunkelheit der Nacht war der Spiegel meiner Seele… Aufstehen. Warten. Aufgeben. Fallen lassen. Wieder schossen die Lichter eines Autos an mir vorbei. Während ich den roten Lichtern nachsah, dachte ich an das helle Licht am Ende dieses Tunnels. Ich konnte es nicht sehen. Einmal aufstehen. Einen Schritt zur richtigen Zeit. Niemand würde darüber sprechen und wenn, dann höchstens mit vorgehaltener Hand. Eine Woche. Vielleicht zwei. Es wäre alles vergessen und niemand wäre da, der mich vermissen würde. Nicht einmal sie.  “ 

Ich brauche einen größeren Heftstreifen. Der alte, aus Kupfer, ist zu kurz. Er kann die Seiten nicht halten. Immer wieder öffnet er sich und wirft die letzten Blätter des Manuskriptes raus. Passe ich nicht auf, fallen sie auf den Boden. Nein. Das ist kein guter Zustand, schließlich arbeite ich mit dem Papier. Ich blättere hin und her, mache mir Notizen, streiche Passagen, schreibe sie neu. Da bedarf es schon eines Heftstreifens, der halten kann, was er halten soll. Vielleicht ist es etwas altmodisch mit Papier zu arbeiten. Mir egal. Mittlerweile bin ich in einem Alter, in dem die Songs meiner Jugend zu den Oldies gehören. Traurig ist das nicht. Aber wahr.

Kleine Klebezettel markieren große Meilensteine. Universum ist darauf zu lesen. Oder Tod. Auf einem steht Leben, auf dem anderen Schmerz. Die Worte „Alter“ und „Mann“ stehen auf einem anderen. Irgendwo müsste auch das Wort Glück zu finden sein. Vielleicht fehlt dieser Klebezettel noch. Ich werde ihn nachreichen. Morgen. Übermorgen. Eventuell am Wochenende. Mal sehen. Die Zeit vergeht mitunter viel zu schnell. Es könnte auch sein, dass ich zu lange brauche. Kann sein. Die Zeit ist relativ, das hat Einstein schon gesagt. Und mit einem Zitat von ihm, beginnt die Geschichte. Mit welchem? Das verrate ich noch nicht. 

Die Geschichte handelt von zwei Menschen, die voneinander wissen, doch nie miteinander sprachen. Sie trafen an einem Punkt der Zeit aufeinander, an dem sie sich nicht begegnen wollten. Einer von ihnen hat einiges verloren, der andere alles. Vielleicht ist das Leben ein mieser Verräter, vielleicht nicht. Vielleicht gewinnen wir, wenn wir verlieren, vielleicht verlieren wir, wenn wir gewinnen. Wer kann das schon mit Gewissheit sagen? Es ist eine Geschichte, die vom Abschied handelt, vom Verlust, vom Schmerz. Es ist eine Geschichte, die von der Trauer erzählt und davon, wie unterschiedlich die Lebenslinien verlaufen können und davon, wie wenig wir oftmals wirklich wissen. Sie erzählt vom Loslassen, vom Ankommen und vom Glück. Sie erzählt von allem und davon, das alles eins ist.

Die Vergangenheit ist eine Geschichte, die wir uns selbst erzählen. Ach Mist. Ich würde gerne mehr erzählen. Doch gerade, als ich im Manuskript blätterte, um nach dem Rest des Zitates zu suchen, fiel das komplette Werk in sich zusammen. Aufsammeln, neu sortieren und ganz wichtig: Einen neuen Heftstreifen besorgen. Der alte, aus Kupfer, ist zu kurz. Er kann die Seiten nicht mehr halten. Er hat sich geöffnet, als ich nicht achtsam genug war. Unglück? Glück? Wer weiß das schon?    

Die meisten Menschen möchten normal, die wenigsten, aber gewöhnlich sein. Dabei setzt das eine das andere voraus. Niemand kann normal sein, ohne gewöhnlich zu wirken. Karl-Heinz Albrecht stand in seinem Büro in der Wagnerstraße. Durch sein Fenster konnte er nach unten auf den Kundenparkplatz blicken. Hin und wieder kamen Autos an und Menschen stiegen aus. Andere Menschen stiegen ein und fuhren wieder davon. Und obwohl all diese Menschen Kunden seiner Bank waren, hatte er mit den wenigsten von ihnen zu tun. Karl-Heinz Albrecht war Vorstand dieser Bank und kümmerte sich mit zwei weiteren Kollegen um das operative Geschäft. 

Sein Arbeitsalltag war strukturiert. Morgens, nach dem Aufstehen, verschwand er zunächst im Bad. Anschließend frühstückte er mit seiner Frau Margret. Margret Albrecht war Lehrerin an der Grundschule des Ortes, in dem sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn Timo lebte. Ein kleines Dorf etwas hinter den Stadtgrenzen gelegen. Timo besuchte die Realschule. Nachdem er gefrühstückt hatte, zog sich Karl-Heinz Albrecht seinen Anzug an. Er achtete stets darauf, dass sein Hemd sauber und die Krawatte korrekt gebunden war. Sein Erscheinungsbild war nicht nur ein Teil seiner Identität, sondern darüber hinaus ein Spiegelbild der Seriosität des Unternehmens, dessen Vorstand er war.

In seiner Freizeit hatte das Ehrenamt eine wichtige Rolle. Karl-Heinz Albrecht engagierte sich im Kirchenvorstand, war Vorsitzender des Heimatvereins und Kassenwart des örtlichen Fußballclubs. Fand innerhalb der Dorfgemeinschaft eine Veranstaltung statt, waren er und seine Frau anwesend. Es sei denn, eine dieser Veranstaltung überschnitt sich mit einem familiären Termin. Oder mit einem beruflichen. Für die beruflichen Termine verlegte er sogar die der Familie. Karl-Heinz Albrecht war stets darauf bedacht alles richtig zu machen. Er war einer der Menschen die normal sein wollten aber eben doch nicht gewöhnlich.

Wenn er morgens durch die Bank ging, die Aktentasche in der rechten Hand, der Rücken gerade, grüßte der die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter freundlich. Stand seine Tür offen, war er für jedermann zu sprechen, blieb sie geschlossen, musste er für sich sein. Eine der Fragen, die ihn immer wieder beschäftigten war jene, wie es die anderen machen würden. Er fiel nie aus seiner Rolle und verkörperte genau das, was von ihm erwartet wurde.

Es gab Tage, an denen fragte er sich, ob er ein beliebter Chef sei. Manchmal stellte er sich selbst in Frage, denn wie kein zweiter hatte er es perfektioniert, Arbeit und Privatleben zu trennen. Nur wenige Angestellte duzten ihn. Er war darauf bedacht, eine gewisse Distanz zu wahren. Wurde er von Mitarbeiterinnen oder Mitarbeitern zu privaten Feiern eingeladen, kam er stets allein und blieb nur solange es erforderlich war. Er trank nie bei diesen Gelegenheiten und blieb auch ansonsten stets in seiner Rolle. Auffallen? Gerne. Aber wenn, dann nur durch Leistung.

Karl-Heinz Albrecht saß in seinem Büro in der Wagnerstraße. Er stand an seinem Fenster und blickte auf den Parkplatz. Wie viele Autos gekommen und wieder gefahren waren, wusste er nicht. Es müssen einige gewesen sein. Hinter ihm, auf seinem Schreibtisch, lag eine Personalakte. Die eines Mitarbeiters. Eines, nach seinem Verständnis, guten Mitarbeiters. Doch da gab es diesen Vorfall, diesen Wunsch, diese Änderung und Karl-Heinz Albrecht wusste in diesem Moment einfach nicht, wie er damit umgehen sollte. Einer der Kunden, einer der vermögenden Kunden hatte darum gebeten, dass dieser Mitarbeiter künftig nicht mehr sein Kundenberater sein möge. Was genau vorgefallen war, wusste er nicht. Weder der Kunde als auch der Mitarbeiter hatten etwas dazu gesagt. Es stand nur dieser eine Wunsch im Raum.

Karl-Heinz Albrecht stand am Fenster. Er lockerte seine Krawatte, was er nie tat. Er atmete tief ein und wieder aus. Er hatte einen Verdacht. Einen leisen, schleichenden Verdacht. Das Frühlingsfest des Dorfes lag nun schon einige Tage zurück und sein Sohn Timo hatte ihm davon erzählt. Morgens. Beim Frühstück. Doch das konnte nicht sein. Dieser eine Kunde wäre nicht dagewesen. Dieser Verdacht war nichts mehr als ein Hirngespinst. Doch was blieb im übrig. Er musste handeln, wie ein Vorgesetzter, wie ein Vorstand handeln muss. Er ging zurück an den Schreibtisch, nahm seinen Füller und unterschrieb die Versetzung.

Daraufhin nahm er den Hörer des Telefons in die Hand und kontaktierte die Leiterin der Privatkundenabteilung. Sie solle die Versetzung in die Wege leiten und den entsprechenden Mitarbeiter darüber informieren. Anschließend zog er seine Krawatte zurecht, stand auf und öffnete die Tür seines Büros. Noch drei Stunden bis zum Feierabend. Am Abend stand die Generalversammlung des Heimatvereins im Kalender. 

Die Tage von Karl-Heinz Albrecht waren strukturiert. Sie unterschieden sich nur in kleinen Nuancen voneinander. Und einige diese Nuancen waren unangenehm, ungewöhnlich und nicht normal. Diese gefielen ihm am wenigsten.