Der Weg gegen die Angst, führt immer durch die Angst. Es gibt keinen Umweg, keine Abkürzung, keine andere Möglichkeit. Du musst Dich in den Sturm begeben, um zum Auge des Hurrikane zu gelangen. Mutig zu sein, bedeutet nicht, keine Angst zu haben. Mut bedeutet, dass Du Deine Angst akzeptierst und ihr entgegen gehst. Mut heißt, die Angst zu spüren und es trotzdem zu tun. 

Schreiben lassen sich derartige Sätze leicht. Die Umsetzung allerdings, ist alles andere als das. Es ist schwer, sich seiner Angst zu stellen. Blicke ich auf die letzten vierzig Jahre zurück, jedenfalls zu den Momenten, an die ich mich erinnern kann, muss ich mir selbst eingestehen, viele Dinge aus Angst nicht getan zu haben. Manchmal waren es nur Kleinigkeiten, bei denen mir der Mut fehlte. Und wenn mir jemand anerkennend auf die Schulter klopfte und meinte, dass ich doch sehr mutig sei, schwieg ich. Sicherlich gab es Augenblicke, Situationen, in denen ich mir selbst meinen Mut bewiesen habe. Doch die Anzahl der Momente, in denen ich der Angst die Oberhand ließ, sind beträchtlich höher. 

Angst zu haben ist nichts, für das wir uns schämen müssen. Sie ist ein Gefühl und zählt neben Ekel, Freude, Trauer, Überraschung, Verachtung und Wut zu den sieben Grundemotionen, die jeder von uns in sich trägt. Als Alarmsystem dient die Angst dazu, uns und unseren Körper vor Gefahren zu bewahren. Im Grunde genommen ist die Angst daher ein überlebensnotwendiges Gefühl, welches unseren Verstand wach werden lässt. Stehen wir am Abgrund, sorgt die Angst dafür, dass wir nicht ungesichert weiter gehen. Werden wir angegriffen, löst die Angst einen Abwehr- oder Fluchtmechanismus aus. Angst zu haben kann etwas durchweg Gutes sein. 

Die Situationen, in denen Angst als Alarmsystem notwendig wurde, halten sich, in meinem Fall, in Grenzen. Vor einigen Jahren, in Howth, Irland, war die Angst ein gutes Werkzeug. Es war windig und der Weg, der an den hohen Klippen entlangführte, war mit Vorsicht zu genießen. Und ja, beim Blick in die Tiefe hatte ich richtige Angst. Doch meistens waren viele der Ängste, die ich hatte, unbegründet. Es waren Bilder von zukünftigen Situationen, die in jenen gegenwärtigen Momenten niemals stattfanden. Genau diese, die unbegründeten Ängste, sind jene, die ich meine.

Ich meine jene Ängste, die mich klein machen. Die Ängste, die mein Licht vor der Dunkelheit verbergen. Die Angst davor machtvoll sein zu dürfen. Immer wieder sehe ich Menschen, die dieses oder jenes erreichen und selbst glaube ich, ähnliches nicht selbst zu können, zu dürfen. Ich frage mich, wer bin ich denn eigentlich zu glauben, ich könnte talentiert, kreativ und leuchtend sein. Und dann kehre ich zurück in mein Schneckenhaus, anstatt mich selbst zu fragen, wer ich bin, es nicht sein zu dürfen. Vielleicht sollte ich mich des Öfteren daran erinnern, das es niemanden dient, mich klein zu halten, am wenigsten mir selbst. 

Es ist die Angst davor, dass Menschen über mich lachen könnten, wenn ich Dinge tue, die andere vielleicht nie tun würden. Es ist die Angst vor der Ablehnung, weil einige Vorhaben anders sind und den Erwartungen der Menschen nicht gerecht werden würden. Aber muss ich den Erwartungen anderer entsprechen? Nein. Das muss ich nicht. Und wie viele Menschen wurden zuerst ausgelacht, nieder gemacht und dann kopiert? Wie viele Menschen leben ein trostloses Leben, weil sie es nicht wagen aus der Herde auszubrechen und ihren eigenen Weg zu gehen. Zu welcher Sorte Mensch möchte ich gehören? Ich glaube, diese Frage erübrigt sich.

Während ich darüber nachdenke, fällt mir auf, dass ich in meinem Leben schon einige Menschen enttäuscht habe. Und heute beschließe ich, ihnen allen zu verzeihen. Ich verzeihe Ihnen, dass sie Erwartungen hatten, die ich nicht erfüllen wollte. Es tut mir leid, dass ich ihnen die Macht gab, Erwartungen an mich zu haben. Es ist und war nie mein Fehler, dass diese nicht erfüllt wurden. Und es wird zukünftig nichts mit mir zu tun haben. Mir selbst verzeihe ich, dass ich stetig versucht war, die Erwartungen anderer zu erfüllen und mich selbst dafür verbogen habe. Ich verzeihe mir, dass ich Angst davor hatte, mutig zu sein, Angst davor hatte, zu leuchten und ich verzeihe mir, dass ich mich selbst daran gehindert habe, zu glauben, großartig sein zu dürfen. 

Tom Hiddleston meinte mal: „Wir haben alle zwei Leben. Das Zweite beginnt, wenn Du erkennst, dass Du nur eines hast.“ Vielleicht ist es jetzt endgültig an der Zeit, genau das zu kennen. Nein. Nicht vielleicht. Es ist an der Zeit. Jetzt.        

Als ich neulich unterwegs war, kam ich an einem Gebäude vorbei, in dem ein Bekannter einst ein kleines Geschäft hatte. Dieses war dort nicht mehr zu finden. Ich gebe zu, dass diese mir bekannte Person ein entfernter Bekannter ist und wir nur gelegentlich Kontakt haben. Eher selten, sozusagen. Doch obwohl ich ihm in den sozialen Medien folge, habe ich von der Schließung des Standortes nichts mitbekommen. Warum er sein Geschäft dort geschlossen hat, kann ich nicht sagen. Er wird seine Gründe gehabt haben und wie diese Gründe aussahen, ist aus meiner Sichtweise betrachtet, nichts als wilde Spekulation ohne festes Fundament. Natürlich könnte ich ihn fragen, doch am Ende geht es mich gar nichts an.

Während der weiteren Fahrt dachte ich über derartige Dinge nach. Nicht über diese Schließung im speziellen, sondern viel mehr darüber, wie wir Menschen in den sozialen Netzwerken oftmals Dinge kommunizieren. Gerade aus unternehmerischer Sicht. Was das Unternehmerische betrifft, bin ich sicherlich keine Koryphäe, kein Überflieger, niemand der für seine Leistungen hochdekoriert ausgezeichnet wird, dennoch fällt mir immer wieder auf, dass die Kommunikation nach außen, für die meisten Unternehmen, eine Einbahnstraße ist. Die meisten Beiträge, Fotos, Statusmeldungen zeigen nur den Weg nach oben. Falls es Misserfolge, Rückschläge oder ähnliches gab, wird über diese stets der Mantel des Schweigens gelegt. Damit meine ich an dieser Stelle nicht die Schließung des erwähnten Standortes, denn wie bereits erwähnt, kenne ich die Gründe nicht. Sie war allerdings der Auslöser meiner kleinen Gedankenkette. 

Authentizität. Ein Wort, welches ich besser schreiben als aussprechen kann. Viele Menschen möchten authentisch sein, viele Beraterinnen und Berater raten immer wieder dazu, authentisch zu werden. Doch was bedeutet der Begriff Authentizität eigentlich? Für mich bedeutet es, dass ich mich im außen so zeige, wie ich im inneren bin. Es heißt, dass unser Handeln nicht durch äußere Einflüsse bestimmt wird, sondern in uns selbst begründet liegt. Tatsächlich lässt sich das ebenfalls leichter sagen, bzw. schreiben, als es die Umsetzung im echten Leben ist. Wobei? Das stimmt so nicht ganz. Im positiven gesehen, ist Authentizität etwas, das sehr leicht von der Hand geht. Wenn ich mich freue, wenn ich ein für mich erfolgreiches Erlebnis habe, fällt es mir leicht, es der Welt mitzuteilen. Habe ich einen Misserfolg, Angst, bin ich traurig, niedergeschlagen oder habe ich eine Absage erhalten, bleibe ich lieber leise und hänge das Alles nicht an die große Glocke. Läuft etwas nicht gut, bleibt die Authentizität in meinem Fall unter einer schweren Betonschicht verborgen. 

Während der Fahrt dachte ich intensiv darüber nach, warum es auf der einen Seite so leicht ist, auf der anderen Seite hingegen so furchtbar schwer. Die Antwort darauf zu finden, dauerte nicht lange. Die meisten Menschen haben Angst vor Ablehnung und ich zähle mich dazu. Ich habe Angst vor Ablehnung. Ich meine, wer hat schon wirklich Bock darauf, abgelehnt, als „nicht gut genug“ abgestempelt zu werden. Das dem so ist, habe ich in den letzten Wochen intensiv bemerkt, während ich mich selbst immer wieder in Frage gestellt habe. Dabei ist mir aufgefallen, dass ich oftmals in verschiedene Rollen geschlüpft bin, von denen ich glaubte, sie wären interessant. Beiträge, Postings, Fotos, von denen ich glaubte, sie würden „draußen“ nicht gut ankommen, habe ich nie veröffentlicht. Es war oftmals die Angst vor Ablehnung, die mitbestimmt hat, ob ich etwas sage, schreibe, zeige oder ob ich es einfach sein lasse. Authentizität? Bitte nur in eine Richtung. 

Es ist, wie es ist. Ein Schlüsselsatz, der mir in letzter Zeit unheimlich gut tut. Und dieser Satz ist vielleicht sogar der Schlüssel zur Überwindung der Angst vor Ablehnung. Es ist, wie es ist. Nicht jeder Mensch mag mich. Nicht jeder Mensch, teilt meine Ansichten. Immer wieder wird es Menschen geben, die blöd, unsinnig oder sogar dumm finden, was ich tue. Das ist für mich mittlerweile vollkommen in Ordnung, denn ich habe damit, dass nicht alle Menschen erreichen zu können, meinen Frieden geschlossen. Mehr noch: Ich möchte gar nicht, dass mich alle Menschen auf meiner Reise begleiten. Es ist nicht mein Ziel, all die Menschen da draußen mit in meine Welt zu nehmen. Viel mehr möchte ich die Menschen ansprechen, zu denen ich passe. Die Menschen, die ähnliche Werte, ähnliche Überzeugungen und Vorstellungen vom Leben haben. Authentizität heißt nicht so zu sein, dass alle einen mögen. Authentizität bedeutet anzuecken und in Kauf zu nehmen, nicht von jedem gemocht zu werden.

Natürlich steht es mir gar nicht zu, irgendjemandem Ratschläge zu erteilen und wer was in die Öffentlichkeit tragen möchte, bleibt zum Glück jedem selbst überlassen. Doch ich persönlich finde Gefallen an dem Konzept der Authentizität. Ich glaube, ich finde es gut, auch mal Dinge zu erwähnen, die mir nicht gelingen, von Situationen zu erzählen, in denen mir Fehler unterlaufen sind oder von Momenten zu schreiben, in denen ich gescheitert bin. Stoff dafür hätte ich genug. Allerdings liegen dieser in der Vergangenheit und was diese Geschichten betrifft, habe ich mir längst selbst verziehen. Aber generell: Ich find es gut, auch mal zu sagen, wenn etwas in die Hose geht. Authentizität. Muss nicht jeder gut finden. 

Der erste Tag des meteorlogischen Frühlings. Aus dem Schacht, in dem sich die Konvektor-Heizung befindet, steigt leicht modriger Geruch. Wahrscheinlich liegt es an dem Holz, im dem sich der Duft eines halben Lebens befindet. Seit nahezu 50 Jahren liegt es dort und nun ist es an der Zeit, dieses zu entfernen. Der Schacht selbst verschwindet zeitnah. Er wird mit Beton gefüllt.

Unter dem Laminat liegt italienischer Marmor. Sauber verlegt, als ich noch nicht geboren war. Der Fliesenleger meinte, er könne ihn überfliesen. Die Höhen der Türen als auch die, der anderen, angrenzenden Räumen würden passen. Zwei Elektrotechnikerinnen planen derweil einen neuen Sicherungskasten. Einige der alten Leitungen werden neu verlegt. Strom, Wasser, Abwasser. All das soll auf den neuesten Stand gebracht werden. Vor kurzem erst ist eine Leitung in der Küche geplatzt. Nahezu unaufhaltsam floss das Wasser durch den Raum, ehe ich es geschafft habe, den Fluss zu stoppen. Dinge passieren. 

Hinter mir, im Büro, steht ein Sofa. Direkt vor dem Schrank, in dem sich meine beruflichen Unterlagen befinden. Alles ist hier etwas enger geworden. Um an meine Akkus zu kommen, muss ich Möbel verrücken. Das Fenster lässt sich derzeit an nur einer Seite öffnen, weil vor der anderen Seite ein Sessel die Öffnung blockiert. Damit lässt sich leben. 

Nachdem ich die Fotos einer Kundin bearbeitet und einige Vorbereitungen für den „Eröffnungstag“ eines anderen Kunden vorbereitet habe, werde ich wieder Tapeten von der Wand ziehen. Alles verschwindet. Alles kommt neu. Es fühlt sich an, wie ein kompletter Restart. Und ehrlich gesagt, dieser bewirkt gerade viel in mir. Es kommt mir vor, wie der Beginn eines neuen, anderen Kapitels. Ob es besser wird? Ob es schlechter wird? Wer kann das jetzt schon sagen?

Ich denke an die Parabel des chinesischen Bauern. Diese erzählt von, einem Bauern, der mit seinem Vater im Grenzland zu den Barbaren lebt. Immer wieder gerät er unverschuldet in verschiedene Situationen, die jede für sich zu schwerwiegenden Auswirkungen führt. Zunächst entläuft ihm sein einziges Pferd, wodurch er einen bedeutenden Teil seiner Lebensgrundlage verliert. Doch es kommt zurück und bringt weitere Pferde mit sich, die den Barbaren entlaufen sind. Plötzlich vergrößert sich der Besitz des Bauern. Als der Bauer die Pferde zureiten möchte, verletzt er sich schwer. Seine körperliche Kraft, die gleichbedeutend mit der Arbeitskraft einhergeht, wird geschmälert. Als die Barbaren sein Land angreifen und die chinesischen Truppen, im ganzen Land, nach neuen Männern für die Armee suchen, wird der Bauer aufgrund seiner Verletzungen „ausgemustert“. Er, als auch sein Vater, der aufgrund seines Alters nicht in den Krieg berufen wurde, überleben, während viele andere Männer in der Schlacht starben. 

Die umliegenden Menschen des Dorfes, in dem der Bauer und sein Vater leben, bewerten jede einzelne Situation. Als das Pferd entlief, sprachen sie dem Vater ihr Bedauern aus. Dieser antworte darauf nur, dass es ja sein könne, dass dieser Verlust Glück mit sich bringt. Als das Pferd mit den anderen Pferden zurück kam, beglückwünschten sie ihn. Er hingegen sprach zu ihnen: „Wer weiß denn schon, ob das kein Unglück mit sich bringt?“ An dem Tag, an dem der Bauer vom Pferd fiel und sich verletzte, kamen die Menschen des Dorfes und sprachen die Menschen dem Alten ihr Beileid aus. Der Vater aber schüttelte mit dem Kopf:

„Wer weiß, ob dieses nicht das Glück mit sich bringt?“ 

So geht es weiter. Immer weiter. Ich mag diese Parabel, da sie mir zeigt, dass das, was ich heute als Glück empfinde, später zum Unglück führen und das, was ich heute als Unglück einstufe, zum Glück führen kann. Jedes Ereignis in unserem Leben, ganz egal, was es ist, geschieht im und durch das Leben. Meistens unbeabsichtigt. 

Oftmals stehen wir im Leben, an einem Punkt, an dem wir nicht bekommen, was wir wollen. Dann stellen wir das, als Tragödie des Lebens da. Doch das Leben beweist immer wieder, dass es viele Situationen gibt oder geben wird, in denen wir feststellen, dass dieses nicht der Fall ist. George Bernard Shaw, ein irischer Schriftsteller, hat einmal von den zwei großen Tragödien des Lebens gesprochen. Er sagte: 

„Es gibt zwei Tragödien im Leben. Eine davon ist, dass unser Wunsch nicht in Erfüllung geht. Die andere Tragödie ist es, dass er in Erfüllung geht.“

Wahrscheinlich ist das Glück, wie die Zeit. Relativ.   

Während andere Menschen, bei schönstem Wetter, am Rande der Talsperre spazieren, reinige ich den Boden, den ich später herausziehen werde. Während andere gut gelaunt, im Schatten der Bäume, die Natur betrachten, schmiede ich Pläne. Und während ich plane, lacht das Schicksal. So oder so ähnlich heißt es doch. Fast jede Sprache dieser Welt hält ein Sprichwort parat, welches die Sinnlosigkeit von Plänen angesichts der Unberechenbarkeit des Lebens beschreibt.

Ich kenne das. Als ich im Januar 2020 in meinen Kalender schaute, waren die Wochenenden der kommenden Monate nahezu nahtlos verplant. Etwas später erreichte das Coronavirus Deutschland und nur wenige Wochen später verhängte die Bundesregierung die ersten Maßnahmen, um dieses Virus einzudämmen. Es traten Regeln in Kraft, die das ganze Land vorrübergehend lahmlegten. Die Termine von Wochen wurden in wenigen Stunden ausnahmslos gestrichen. Ich hatte geplant und das Schicksal gelacht.

War das nun Pech? Oder war es Glück? Nun, Glück ist, meiner Meinung nach, immer auch eine Frage der Akzeptanz. Und Akzeptanz bedeutet, dem Leben so zu begegnen, wie es kommt. Akzeptanz besagt, dem Leben mit einem klaren Ja zu entgegen zu gehen, wobei dieses Ja nicht bedeuten muss, alles gut zu finden oder generell in eine „ist-mir-doch-egal-Stimmung“ zu verfallen. Dieses Ja bedeutet, die Wege des Lebens anzunehmen, so wie sie kommen. So, wie sie sind.

Diese Akzeptanz der Dinge führt zu einer besonderen Klarheit. Zu einer Klarheit, die es vermag, die Wahrnehmung zu schärfen. Und die Wahrnehmung der Dinge ist das, was wirklich wichtig ist. Wie sollen wir es schaffen, Lösungen zu finden, wenn unsere Wahrnehmung getrübt ist?

Allerdings, ich möchte es gestehen, diese Akzeptanz ist kein leichtes Unterfangen. Es ist eine schwierige Aufgabe, der wir uns tagtäglich stellen müssen, wenn wir möchten. Jeden Tag, vielleicht auch jede Nacht, spült der Fluss des Lebens uns neue Ereignisse zu, auf die wir mal mehr, mal weniger, meistens jedoch gar nicht, Einfluss nehmen können. Diese Ereignisse, die da kommen, betrachten wir unbewusst durch einen starken Filter, der unsere eigene Wahrnehmung verzerrt.

Wir blicken immer wieder durch diesen Filter, der aus Befürchtungen, Hoffnungen, Erwartungen und Wünschen besteht. Das führt dazu, dass jede und jeder bei gleicher Umgebung in seine eigene Welt schaut. So hat Schoppenhauer es einst ganz vortrefflich formuliert. Betrachten wir Ereignisse durch den Filter der Erwartungen, müssen wir Enttäuschungen in Kauf nehmen. Warum? Enttäuschungen setzen Erwartungen voraus. Tritt ein Ereignis entgegen unserer Erwartung ein, sind wir enttäuscht. Das mag frustrierend klingen, doch bedenkt man, dass jede Enttäuschung auch das Ende einer Täuschung ist, können wir dem Ganzen doch etwas Positives abgewinnen. 

Was die Hoffnung betrifft, die stirbt bekanntlich zuletzt und glücklich sein können wir nur wunschlos. Die Angst, bzw. die Befürchtungen mit der wir Dinge zeitweilig betrachten, ist ein eigenes, großes Thema. Da ich aber merke, dass ich mich hier ein wenig in diese Thematik steigere, schreibe ich darüber ein anderes Mal. Erwarte es aber nicht, denn das könnte dich zur Enttäuschung führen.

Doch kurz noch zurück zu den Wünschen. Ein erfüllter Wunsch führt oftmals in die Leere, weil wir uns dann danach fragen, was als nächstes kommt. Ein unerfüllter Wunsch sorgt dafür, dass unser Ego sich immer wieder meldet und uns eintrichtern möchte, dass wir nicht glücklich sein können, solange wir dieses oder jenes nicht haben. Das bedeutet nicht, dass wir gar keine Wünsche haben sollten. Das wäre blöd. Nur sollten wir uns davon verabschieden anzunehmen, dass ein Wunsch uns glücklich machen kann.  

Ich persönlich glaube, und Deine Ansicht kann natürlich eine ganz andere sein, ist, dass all die Ereignisse, die uns im Leben begegnen, keinerlei Bedeutung haben. Wir sind es, die diesen Dingen eine Bedeutung geben. Wir bestimmen, was wir sehen. Doch leider ist das oftmals ein unbewusster Vorgang, der meistens durch unser Ego gesteuert wird.

Noch einmal: Nichts und niemand hat eine Bedeutung für uns, bis wir selbst beginnen die Bedeutungen zu vergeben. 

Ein Beispiel: Irgendwann beginnen wir Menschen zu mögen, weil wir sie kennenlernen und feststellen, dass sie (durch den Filter betrachtet) unsere Wünsche, Erwartungen und Hoffnungen erfüllen. Doch wenn sie sich verändern und das eben nicht mehr tun, sind wir enttäuscht und verbannen diese Menschen wieder aus unserem Leben. Daran zerbrechen Freundschaften, Partnerschaften und Ehen. Doch sollten wir eben nicht vergessen, dass niemand dazu verpflichtet ist, unsere Erwartungen zu erfüllen, so wie wir niemanden gegenüber verpflichtet sind, seine Erwartungen gerecht zu werden.

Glück. Das ist immer eine Frage der Akzeptanz. Die Akzeptanz dessen, was ist. Wenn ich die Ereignisse des Lebens so annehme, wie sie kommen, bedeutet es, dass ich mit dem Leben einverstanden, im Einklang bin. Akzeptanz heißt das Leben so anzunehmen, wie es ist. Es bedeutet nicht, alles gut zu finden. Es heißt alles zu akzeptieren, wie es ist, ohne zu vergleichen.

Na gut. Ich habe mich verzettelt, bin ausgeufert und habe wahrscheinlich ein Thema angeschnitten, dass ich in seiner Komplexität nicht in ein paar Zeilen behandeln kann. Aber was soll ich sagen, es ist wie es ist. Nun werde ich mich mal wieder den Plänen widmen, denn wenn auch das Schicksal lachen mag, Pläne sind etwas Wunderbares, um ins Handeln zu kommen. Ich darf nur nicht erwarten, dass sie alle in Erfüllung gehen. Du musst gar nicht meiner Meinung sein, das erwarte ich nämlich auch nicht.    

 

     

       

Plötzlich bemerkte ich, es würde nicht reichen. Alles musste raus. Nicht nur die Tapeten. Alles. Einfach alles. Die Möbel. Die Leisten. Der Fußboden. Alles musste raus, bis lediglich der nackte, kalte Raum übrig blieb. Durch das Fenster sah ich den Himmel. In strahlendem Blau. Wolken zogen vorbei. Unaufhaltsam. Sie kamen, sie gingen und niemand hatte die Macht, dagegen etwas zu tun. Sie waren wie die Gedanken, die immer wieder auftraten, während ich dabei war, den Raum das das kleinstmögliche herunterzubrechen. 

Abriss

Auf dem Boden kniend, machte ich mich an die erste Sockelleiste. Eine Hamburger Leiste, fest in der Wand verschraubt. Während ich die Schrauben löste, um die Leiste von der Wand ziehen zu können, dachte ich darüber nach, dass der Raum nach und nach seine Rolle verlieren würde. Wenn die Möbel, die Farben, der Boden, all das, was ihn ausgemacht hatte, verschwunden waren, konnte niemand mehr mit Gewissheit sagen, was dieser einst gewesen sein könnte. Vielleicht wäre da noch die Erinnerung an das Wohnzimmer gewesen. Eventuell gäbe es eine Vorstellung, was aus diesem Raum werden könnte. Doch in dem Moment, in dem ich allein in diesem nackten Raum stehen würde, wäre er nicht mehr als das. Ein Raum.

Mir gefiel der Gedanke. Er löste in mir eine tiefe Zufriedenheit aus. Doch es war nicht der Raum, nicht die Tatsache, dass ich alles Überflüssige entfernen würde. Es war der Gedanke, dass ich alles in mir selbst, auf das Kleinste herunterbrechen könnte. Alles loslassen. Ich könnte alles in mir herunterbrechen, so lange, bis ich nackt und kalt vor mir selbst stehen würde. Was würde übrig bleiben, wenn die all die Rollen, die ich mir selbst auferlegt habe, nicht mehr da wären? Ich könnte mich selbst von allen Masken befreien, mich selbst entwickeln und nur das übrig lassen, was wirklich meinem ureigenen Selbst entspricht.

Schraubend auf dem Boden kniend, zogen Gedanken wie Wolken durch meinen Kopf. Leisten lösend, suchte ich nach Antworten. Ich stellte mir den Raum vor. Ohne all die Dinge, die ihn noch zu dem machten, was er war. Und ich fragte mich, wer ich sei, ohne all die Rollen, die ich angenommen hatte. Wer bin ich? Ganz bestimmt lässt sich die Antwort auf diese Frage nicht finden, während ich Hamburger Leisten von der Wand ziehe. Wahrscheinlich ist es so: wenn kein Attribut mehr zu den Worten „Ich bin“ hinzugefügt werden muss und ich das aushalten kann, erst dann bin ich wieder bei mir selbst.   

Das Klingeln der Haustür riss mich aus meinen Gedanken. Später, als ich meine Aufmerksamkeit wieder den Leisten widmen konnte, fiel mir auf, dass ich unbewusst begonnen hatte, ein leises Lied zu pfeifen. The Sound of Silence.          

   

Dieses Leben lebe ich seit einundvierzig Jahren. Seit achtundzwanzig Jahren versuche ich das Rätsel zu lösen, welches es mit sich bringt. Im Spiel dieses Lebens und während der Suche nach der Lösung des Rätsels, habe ich mir bereits ein paar Narben eingefangen. Einige sind nicht weiter tragisch, andere sind tief und immer noch spürbar. Was das Spiel als solches betrifft, mal war ich gut darin, mal nicht so gut. Es gab sogar Momente, in denen ich wirklich richtig schlecht war. Und so traurig es unter Umständen klingen mag, so trug jeder dieser Momente etwas überaus Gutes in sich. Ich durfte lernen.

Eine Sache, die ich gelernt habe: viele Menschen glauben, dass es im Leben nur um das Vergnügen geht. Das es ausschließlich darum geht, glücklich zu sein. Ich denke, so etwas zu behaupten, kommt einer Lüge gleich. Im Leben geht es um das Leben. Es geht darum, das Leben zu erleben. Wir üben, wir lernen, wir wachsen, durch das Leid, genau wie durch die Freude. Wenn wir dieses verstehen, begreifen wir, dass das Leiden ein Teil des Lebens ist. Es ist nie ein schöner Teil und doch ist es ein unbestreitbarer Teil davon. 

Vielleicht ist dieses eine Wahrheit, die niemand gerne hört. Eine Wahrheit, die wie ein Geheimnis behandelt wird und die besser unausgesprochen bleibt. Doch das ändert nichts an der Tatsache. Das Leben besteht aus Leiden und Freuden. Ob diese Erkenntnis die Lösung des Rätsels oder lediglich ein Teil davon ist, weiß ich nicht. Aber die Anerkennung dieser Wahrheit ist, jedenfalls für mich, die Bejahung des Weges.  

 

In der Kiste einer Logopädie-Praxis lagen eine Vielzahl verschiedener Bücher für Kinder. Es gab Bücher über die Feuerwehr, Bücher über die Polizei, einige erzählten Märchen, andere vermittelten Wissen. Viele der Bücher waren großformatig, in vielen bunten Farben gestaltet. Doch zwischen all den Büchern stach eines hervor. Nicht, weil es besonders bunt war. Nicht, weil es besonders groß war. Es war der Titel des Buches. Es hieß: Die besten Beerdigungen der Welt. 

Beerdigung

Ich war beruflich in der Praxis. Meine Aufgabe bestand darin, einige Fotos aus dem Praxisalltag anzufertigen. Fotos, die später auf einer Webseite, in den sozialen Medien und in einigen Prospekten zu sehen sein werden. Demensprechend konzentrierte ich mich auf den Grund meines Daseins und ließ das Buch, Buch sein. Dennoch hatte der Titel, als auch die Tatsache das es ein Kinderbuch war, mich beeindruckt.

Zurück im Büro ließ mich das Buch nicht los. Drei Kinder gründen an einem langweiligen Tag ein Beerdigungsinstitut. Ein Institut für all die toten Tiere, die niemand sonst beachtet. Sie möchten für diese Tiere die besten Beerdigungen der Welt ausrichten. Mit einer verstorbenen Hummel, die sie während ihrer Langeweile finden beginnt alles.

Die Kinder verteilen Aufgaben. Ein Kind schaufelt, eines trägt am Grab ein Gedicht vor und ein Kind muss weinen. Nach dieser ersten Beerdigung stellen sie fest, dass eine Beerdigung für ein Institut nicht genug ist. Doch wo bekommt man jetzt nur toten Tiere her? Eines der Kinder greift zum Telefon…

Beerdigungen.

Nachdem ich mich ein wenig über dieses Buch informiert habe, dachte ich darüber nach, wie die besten Beerdigungen der Welt wohl aussehen würden. Die Beerdigungen, die ich bislang besuchen musste, gehören nicht dazu. Definitiv nicht. Können Beerdigungen schön sein? Schließlich ist es doch ein definitives Abschiednehmen, von dem niemand mit Sicherheit sagen kann, ob es ein Wiedersehen geben wird. 

Ich habe mich gefragt, wie meine Beerdigung aussehen wird und ob ich vielleicht auf eine andere Art und Weise sehen kann, wie sie abläuft. Und was wäre, wenn der Rahmen des Ganzen nicht dem entspricht, wie ich es mir gewünscht hätte? Vielleicht, so dachte ich weiter, wäre es ja gut, zeitnah meine eigene Beerdigung zu planen. Einfach nur, damit sie nicht allzu ätzend wird. Wenn es „Einladungskarten“ geben wird, das kann ich jetzt schon mit Gewissheit sagen, sollte folgender Satz auf jeden Fall darin zu finden sein: 

Wer in schwarz kommt, ist ein Asi.

Naja. Bis dahin sind wahrscheinlich noch ein paar Tage Zeit. Dennoch finde ich den Gedanken, mich mit meiner eigenen Beerdigung zu beschäftigen gar nicht zu abwegig. Wäre doch schön, wenn alles so läuft, wie ich es mir in etwa vorstelle. Eine katholische Beerdigung, auf der gesagt wird, man müsse für meine Sünden beten, möchte ich nicht. Zum Glück muss ich mir diesbezüglich keinerlei Gedanken machen. Ich bin längst ausgetreten.  

Mit stolzer Brust und lauter Stimme steht das Ego auf. Es glaubt, es weiß es besser. Es ist überzeugt, es weiß am besten was gut für Dich ist. Das Ego schaut Dir ins Gesicht und rät Dir folgendes: „Erst dann, wenn Du all Deine Ziele erreicht hast und alles passt, wirst Du den Frieden finden.“ Die Seele, die leise am Rand sitzt und von der alle Stille ausgeht, schüttelt lächelnd mit dem Kopf. Leise, aber mit einer tiefen Wahrheit in sich sagt sie Dir: „Finde den Frieden. Dann wird alles passen.“

Den Frieden finden. Gar nicht so einfach in einer Welt, die Dir lauthals zuruft, dass Du Deine Ziele erreichen musst. Die Dir erzählen will, dass es im Leben nur um Sieg und Niederlage geht. Doch was ist, wenn es nicht zählt, ob wir das Spiel des Lebens gewinnen oder verlieren, sondern dass es darum geht, wie wir dieses Spiel spielen? Wie oft verpassen wir die Schönheiten, die links und rechts des Weges liegen, weil wir stetig damit beschäftigt sind, das Ziel im Auge zu behalten? 

Als ich am Sonntag, es war kurz nach eins, von dem Konzert zurück nach Hause fuhr, kam ich aus dem Elbtunnel. Der Regen, von dem ich schrieb, hatte noch nicht eingesetzt. Aus dem Tunnel kommend blickte ich nach links. Der Verkehr hielt sich stark in Grenzen, so das ich etwas langsamer fahren konnte. Ich sah die Lichter der Stadt Hamburg in der Dunkelheit. Die vielen erleuchteten Dinge, die sich aus der Finsternis empor hoben. Ehrlich gesagt, ich hatte so etwas bislang nie gesehen. Zu gerne wäre ich angehalten, um davon ein Foto zu schießen. Aber auf der Autobahn anzuhalten, geschweige denn auszusteigen, ist immer eine dumme Idee. Und obwohl ich nach wie vor kein Freund von großen Städten bin, so etwas Schönes hatte ich ewig nicht gesehen.     

Wie dieser Anblick bei Tageslicht war? Das kann ich nicht sagen. Zu sehr hatte ich mich auf das Ziel gefreut, auf das Konzert, auf die Erlebnisse, die mich erwarten würden. Ich hatte nur dieses im Sinn und mein Blick war fortwährend nach vorne gerichtet. Am nächsten Tag, das Konzert war zur Erinnerung geworden, erfreute mich an Eindrücken und Bildern, die ich erleben durfte. Doch dieses Gefühl war nicht zu vergleichen mit dem Glück, welches ich in dem gegenwärtigen Augenblick spüren konnte. Ich hatte mein Ziel, das Konzert, zwar erreicht, aber das Glück dieses zu erreichen, war kein dauerhaftes.

Ziele sind gut. Sie geben uns eine Richtung vor. Sie lassen uns aufbrechen, um neues zu erleben, neue Eindrücke und Erfahrungen zu sammeln. Dieses Aufbrechen, der Weg an sich ist das, was uns Glück beschert. Nicht das Erreichen von Zielen. Und genau das bedeutet Leben. Neues erfahren. Neues Kennenlernen. Neue Erfahrungen zu machen. Sich verändern. Leben beginnt da, wo wir noch nie waren. Alles andere, denke ich, ist Wiederholung.

Als ich gestern überall diese Dinge nachdachte, verstand ich. Vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben. Ich verstand zum ersten Mal, dass ein Ziel gut ist, aber der Weg das Ziel sein sollte. Es sind niemals die Dinge, die wir tun oder erreichen, die unseren ureigenen Wert ausmachen. Es ist die Art und Weise, wie wir leben, die diesen Wert definiert. Vielleicht ist die Erkenntnis wie unser ureigener Wert definiert wird, ja der Schlüssel zu dem Frieden, der dafür sorgt, dass alles passt. Das alles gut ist. Wie es ist. Jetzt. Und hier. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich in dem Klang der Stille. Irgendwo tief in uns.