Ein letztes Aufbäumen. Hoffe ich. Mit knochigen Fingern warf der Winter eine Ladung Schnee auf die letzten Reste, der von Würmern zerfressenen Jahreszeit. Ein Mann schob mit einem Besen den Bürgersteig frei, während seine Frau in der Einfahrt stand und die Fenster betrachtete. Eventuell dachte sie darüber nach, ob es sich lohnen würde, diese zu putzen. Vielleicht, so dachte ich mir, hätte sich zum Sonntag Besuch angekündigt. Die liebe Verwandtschaft. Und neben den Fenstern gab es noch die Frage, ob sie Schweinebraten oder Lendchen zu den Salzkartoffeln reichen würde. Sollte sie Lendchen wählen, würde ich eine Champignonrahmsauce, grüne Bohnen und sahniges Kartoffelgratin empfehlen. Gleichzeitig war mir klar, sie würde mich nie fragen.

Im Laden an der Hauptstraße, in dem ich Schokolade für die Handwerker kaufte, unterhielten sich zwei Menschen. Einer der beiden fluchte über das Wetter. „Ein unmögliches Wetter“, schimpfte er. Die andere Person, beide waren durchaus älter als ich, pflichtete ihm bei. Ich, dem manchmal ungefragt Dinge aus dem Mund fallen, schmunzelte leicht und flüsterte deutlich hörbar: „Wenn es unmöglich sei, wäre die Wetterlage eine andere.“ Der Mann, der von der Unmöglichkeit des Wetters sprach, schaute mich etwas verdutzt an und lachte. „Stimmt. Wäre es unmöglich, würde es nicht schneien. Hin und wieder sagt man einfach Dinge, ohne weiter darüber nachzudenken.“ Ich nickte und suchte nach der Schokolade. 

Einige Augenblicke später, ich hatte die Süßigkeiten bereits auf das Warenband gelegt, stand der Mann hinter mir. Vom geschätzten Alter her, hätte er mein Vater sein können. Vorsichtig tippte er mir auf die Schulter. Ich drehte mich um. „Was Du vorhin gesagt hast, war interessant. Aber es gehört sich nicht, sich ungefragt in das Gespräch von Unbekannten einzumischen.“ Dann lachte er. Ich ebenfalls. „Stimmt. Hin und wieder sagt man einfach Dinge, ohne weiter darüber nachzudenken.“ „Richtig.“, antwortete er und lachte wieder. Alltagsgeschichten.

Von den Krokussen, die vor dem Kriegerdenkmal wachsen, sah ich nicht viel. Nur zaghaft reckten sich die Spitzen, der geschlossenen Blüten, aus dem Schnee hervor. Wenn es so weiter schneien würde, wären selbst diese zeitnah verschwunden. An der Kreuzung stauten sich die Autos für eine Weile. Die Fahrzeuge, die nach links wollten, hatten es aufgrund des zähfließenden Verkehrs etwas schwerer als gewöhnlich. Aber was ist schon gewöhnlich?

Wenn ich bedenke, dass die Veränderung die einzige Konstante im Leben ist, wird mir klar, dass die Beständigkeit nicht mehr als Fantasie ist. Gestern zum Beispiel, da fielen mir alte Fotos in die Hände. Bilder aus längst vergangenen Zeiten. Bei ihrer Betrachtung fiel mir wieder auf, dass ich auf alten Fotos immer jünger aussehe. Das Gesicht im Spiegel gleicht nicht mehr denen auf den Abbildungen meiner Vergangenheit. Natürlich. Gewöhnlich ist es so, aber diese Gewöhnlichkeit ist immer nur von kurzer Dauer. 

Alles im Leben ist dem stetigen Wandel unterstellt und der Schnee, der heute auf den Blüten vor dem Kriegerdenkmal liegt, wird bald schon verschwunden sein. Selbst die bunten Blüten, die in den kommenden Tagen in verschiedenen Farben blühen werden, verblühen, vergehen und tauchen erst im nächsten Jahr wieder auf. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wer weiß das schon?

Na gut. Es ist Freitag. Das Wochenende steht vor der Tür. Vielleicht nicht der beste Nährboden für Alltagsgeschichten und tiefergehende Gedankenzüge. In den sozialen Netzwerken feiern die Menschen, die den Montag scheiße finden, schon voller Vorfreude. Dürfen sie. Sollen sie. Wenn es sie erfüllt, sehr gerne sogar. Für mich spielt der Wochentag keine tragende Rolle. Ich mag alle Tage. Gewöhnlich jedenfalls.  

 

 

Der Klang von schweren Maschinen hallte durch die Räume. Manchmal staubte es. Doch im Ganzen hielt sich der Staub in Grenzen. Die Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik waren im Haus. Sie verlegten neue Abwasser- und Wasserleitungen. Ohne schweres Gerät war das nicht möglich. Doch es ist erforderlich. Die Küche wird zukünftig in einem anderen Raum ihren Platz finden. Und in diesem waren bislang keine Leitungen vorhanden. 

Während die Handwerker sich um alles kümmern, alles fachgerecht montiert und verbessert wird, sitze ich im Büro. Es gibt einige „Restarbeiten“, die ich für den Tag eingeplant habe. Gestern und vorgestern konnte ich zwei Videos an Kunden übergeben, heute verschicke ich den Link einer Fotogalerie und am Montag bin ich in einer Praxis für Zahnmedizin, um neue Fotos des Teams anzufertigen. Zwischendurch kümmere ich mich um die Renovierungsarbeiten, die ich selbst leisten kann. An einigen Wänden hängen noch Fetzen der Tapete. Aufräumen und fegen kann ich gut.

16:00 Uhr. Die beiden Handwerker verabschieden sich. Morgen früh kommen sie zurück, um die restlichen Arbeiten zu erledigen. Später werde ich neue Schokolade kaufen, denn die, die ich den beiden hingestellt hatte, ist zum größten Teil verzehrt. Zum Glück. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätte die verschiedenen Riegel ihnen sicherlich nicht geschmeckt. So weiß ich, dass die Nervennahrung gut ankam und die Handwerker sich „hoffentlich“ wohl gefühlt haben auf dieser Baustelle. Ich selbst werde das Tagwerk nun auch zu Grunde legen. Genug getan. Für heute. Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut. Zwei Euro für das Phrasenschwein. 

Ralph Fiennes ist britischer Schauspieler. Zu seinen bekanntesten Rollen zählen die Darstellungen des Lord Voldemort in den Harry-Potter Filmen, als auch die des Amon Göth in Schindlers Liste. Er hat einmal gesagt, dass Gott nicht menschlich ist. Weiter sagte er, dass Gott Chaos sei, Unbekanntes, Terror und Erleuchtung zur gleichen Zeit. Und sollte er recht damit haben, wohnt Gott gerade hier im Haus.

Eine Küche gibt es hier derzeit nicht mehr. Ein Wohnzimmer ist ebenfalls nicht vorhanden. Vor dem Kamin stehen Möbel, abgedeckt, weil ich es noch nicht geschafft habe, sie in die Garage zu tragen. Es riecht nach feuchtem Maurermörtel und die Stille wird stetig vom Lärm der Schienen unterbrochen, mit denen der Fliesenleger die Unebenheiten im Boden ausgleicht. 

Chaos und Unbekanntes. Über den Begriff Terror lässt sich streiten und die Erleuchtung kommt immer mal wieder, wenn ich erfahre, was hier und da vielleicht doch nicht ganz richtig zu sein scheint. Macht nichts, mit etwas Ausgleichsmasse, einigen neuen Kabeln und neuen Abwasser- und Wasserleitungen lässt sich alles beheben. Und jeden Abend, meistens gegen sechs, kehrt so langsam Ruhe ein. Dann wird es still im Haus. Fast schon so still, dass es unheimlich wird. Alte Häuser knacken manchmal.

Das Laminat im alten Wohnzimmer war vor Zeiten schon gebrochen. Eine Unebenheit im Boden war der Auslöser. Das Loch im Laminat wurde durch einen Blumentopf kaschiert. Der Riss im Putz, hinter dem Heizkörper, ließ sich nicht gut verstecken. Eigentlich gar nicht. Und dass die Tapeten über die Jahre ihren Zeitgeist verloren hatten, brauche ich nicht zu erwähnen. Auch nicht den Umstand, dass die Küche ihren Geist aufgab. Zuletzt gab es kein Wasser und die Elektrogeräte, ach, lassen wir das.   

Dieses Jahr, so scheint es mir beinahe, wird sich vieles ändern. Einiges hat sich bereits geändert. Manche Dinge sind gut, manche erscheinen mir weniger gut, doch am Ende ist es, wie es ist. Wie lange Gott hier noch wohnen, ich meine, wie lange dieses Leben auf der Baustelle anhalten wird, kann ich derzeit gar nicht sagen. Einige Wochen wird es sicherlich noch so gehen. Ich hoffe ja, dass zu meinem Geburtstag im Mai alles fertig ist. Spätestens. Und wenn nicht? Dann nicht.     

Heißt es tatsächlich „Flex“? Diese Frage stellte ich mir gestern, als ich am Tisch stehend, eine Pizza aß. Die Küche hatte der soziale Briefkasten längst abgeholt. Die Stühle standen eingemottet irgendwo unter einer Folie. Ich hätte im Büro essen können. Am Schreibtisch. Vor dem Rechner. Aber ich mag es nicht, nach Wochen längst vergessene Krümel zu finden. Also stand ich in dem kahlen Raum, am Tisch, aß Pizza und fragte mich, ob „Flex“ wirklich der gängige Fachbegriff war. 

Ich meine, der Zollstock heißt in Wirklichkeit Gliedermaßstab. Und niemand zieht mit einem „Schraubenzieher“ Schrauben aus der Wand. Sie werden gedreht, weshalb das Ding fachlich gesehen ein Schraubendreher ist. Aber ein „Flex“? Es wäre ein leichtes gewesen, mir diese Frage selbst zu beantworten. In den gängigen Suchmaschinen hätte ich eine korrekte Lösung gefunden. Doch ich mochte den Gedanken, es nicht zu wissen. Eine Schwäche, über die viele Handwerkerinnen und Handwerker gelacht hätten. Viele dieser Handwerkinnen und Handwerker allerdings, würden Montag wieder auf der Baustelle stehen und irgendjemanden zurufen, er oder sie solle die Flex aus dem Bulli mitbringen.

Vor einiger Zeit noch, hätte ich diese Unsicherheit, dieses Unwissen nie öffentlich preisgegeben. Schwächen zuzugeben ist etwas, das „man“ besser sein lässt. Das Gegenteil sollte „man“ tun. Mittlerweile ist das Internet voll mit Expertinnen und Experten. Überall lassen sie sich finden. In den sozialen Netzwerken sowieso. Und jeder dieser Personen ist eine Koryphäe auf ihrem Gebiet. Sie wissen Bescheid, bieten Lösungen und helfen immer. Meistens gegen Geld. Sollen sie. Ich hingegen stehe in einem nackten Raum, am Tisch und esse Pizza, während ich mich frage, wie der fachlich richtige Begriff für ein Werkzeug ist, mit dem man alles Mögliche schneiden kann.  

Wie bereits geschrieben, ich mochte dieses Gefühl der Unwissenheit. Dieses mir eingestehen, dass ich nicht alles wissen kann und vor allem wissen muss. In Anbetracht des geballten Wissens, welches es derzeit auf der Welt gibt, weiß ich tatsächlich gar nichts. Wäre ich früher vielleicht anderer Meinung gewesen, würde ich mich heute nicht mehr als „Wissend“ bezeichnen. Ich weiß etwas, aber lange nicht alles. Und das ist für mich vollkommen in Ordnung.

Für eine Bekannte wäre es das nicht. Sie weiß alles. Glaubt sie. Es gibt kein Thema, in dem sie nicht bewandert ist. Ständig kann sie ihren Senf dazu geben. Sie muss es nicht, macht es aber dennoch. Sie ist so stolz auf das, was sie weiß, dass sie es mitteilen muss. Das Problem ist nur: Es nervt. Menschen, die glauben immer alles zu wissen und selbst einfache Gespräche mit diversen Fakten unterstreichen zu müssen, nach denen niemand gefragt hat, strengen mich an. Sie sind oftmals besessen nach Anerkennung und voller Angst vor Ablehnung. Darüber hinaus – und das geschieht wahrscheinlich unbewusst – möchten sie durch ihre geballte Kompetenz beweisen, dass sie besser sind. Doch das sind sie nicht. Niemand ist besser, weil er viel weiß. Du kannst Lexika aus dem Kopf zitieren können und trotzdem ein Arschloch sein. 

Als ich den letzten Bissen herunter schluckte, wusste ich es immer noch nicht. Ich musste lachen. Nicht darüber, dass ich es nicht wusste, sondern vielmehr darüber, dass ich mich während des kompletten Essens mit einer Frage beschäftigt hatte, dessen Lösung einige Tasten entfernt war. Anstatt direkt nach der Antwort zu suchen, hatte ich einfach akzeptiert es nicht zu wissen. Mehr noch, ich hatte beschlossen, es der „Welt“ sogar mitzuteilen, dass ich es nicht wusste. Ob das hier jemand lesen würde, war natürlich eine ganze andere Frage. Aber ich fand es gut, einfach mal zugeben zu können, etwas nicht zu können oder in diesem Fall, etwas nicht zu wissen. 

Heute morgen traf ich meinen Nachbarn auf der Straße. Er ist bestimmt doppelt so alt wie ich. Genau kann ich es nicht sagen. Doch was ich sagen kann, ist, er selbst hatte jahrelang als Maurer gearbeitet und konnte mir eine ganz simple Antwort auf meine Frage geben. Winkelschleifer. 

Als ich an diesem Morgen auf den Hof fuhr, staunte ich nicht schlecht. Gleich zwei Weimaraner-Rüden kamen bellend auf mich zugelaufen. Natürlich stieg ich direkt aus, während der Landwirt seine Hunde zurück pfiff. Sie hörten direkt und kehrten um. Ob ich Angst vor den Hunden hätte, fragte er mich. Ich schüttelte freudig mit dem Kopf. Ich liebe Weimaraner. 

„Es ist so eine Sache“, meinte er. „Weimaraner haben ja eine gewisse Mannschärfe und nicht jeder mag sie.“ Ich erzählte ihm davon, dass ich selbst lange Zeit einen Hund dieser Rasse an meiner Seite hatte, dass er zu meinem besten Freund wurde und ich mich leider von ihm verabschieden musste. Einer der Hunde schnupperte direkt an meiner Hand und ich fragte den Landwirt, ob ich seine Hunde streicheln dürfe. Natürlich durfte ich das. 

Die Handwerker, die an diesem Tag ein neues Dach auf einem der Gärbehälter anbringen wollten, fuhren auf den Hof. Gleichzeitig kam ein großer Kran an, der das benötigte Material an die vorgesehen Stellen tragen musste. Mit der Hand wäre dieses Unterfangen ein unmögliches gewesen. Ich ließ die Hunde, Hunde sein und kümmerte mich darum, die Arbeiten an der Biogasanlage zu dokumentieren. Filmmaterial, Fotos, das komplette Programm.

Einige Arbeiten dauerten länger. Das Verlegen der Folie, das Befestigen dieser, andere Arbeiten, von denen ich persönlich eher weniger, bis gar keine Ahnung habe. In den Momenten, in denen ich warten musste, um nicht im Weg zu stehen, spielte ich mit den Hunden. 

Weimaraner

Weimaraner sind ausgesprochen intelligente und souveräne Hunde. Ich bemerkte gleich, dass der jüngere der beiden Rüden etwas misstrauischer war als das ältere Tier. Da der Schutztrieb bei Weimaranern sehr stark ausgeprägt ist und ein selbstbewusster Hund nicht wirklich zögert, seine Familie bzw. sein „Revier“ zu verteidigen, war ich selbstverständlich vorsichtig. Hätte er mich gebissen, wäre es meine Schuld gewesen. Aber tatsächlich hatte er während der kompletten Zeit keinerlei Anstalten in diese Richtung gemacht. Er war vorsichtig und behielt alles überwachend im Auge.

Vielleicht bemerkte er, dass von mir keinerlei Gefahr ausging. Immer wieder kam er zu mir, schnupperte und beobachtete mich. Ich gab ihm den Raum, den er brauchte und relativ schnell wurden wir warm miteinander. Und ab diesem Zeitpunkt zeigte sich auch, dass Weimaraner sehr anhänglich werden können, denn sofern es ihm möglich war, blieb er in meiner Nähe. Vielleicht tat er dieses auch nur, um mich gewissermaßen überwachen zu können. Am Ende weiß ich es nicht. Trotzdem: Ich liebe diese Hunderasse. Weimaraner sind so wunderbare Hunde. Sofern sie gut erzogen sind, werden sie zu wirklich großartigen Partnern fürs Leben.

Allerdings, das sollte jeder beachten, Weimaraner sind willensstark. Sie brauchen eine feste Bezugsperson, die es versteht, den Hund konsequent und selbstbewusst zu erziehen. Wenn der Hund einen selbst nicht als ranghöher akzeptiert, funktioniert es nicht mit der Erziehung und das ausgezeichnete Verhältnis bleibt nur Wunschdenken. Erziehung bedeutet im Übrigen nicht mit Gewalt und Aggression zu arbeiten. Im Gegenteil. Gelassenheit und Autorität sind die Schlüsselpunkte. Außerdem braucht ein Weimaraner Zeit, viel Auslauf, viel Auslauf, viel Auslauf und noch mehr Kopfarbeit. 

Und dass er im Grunde genommen ein Jagdhund ist, sollte man auch immer im Hinterkopf behalten. Weimaraner haben eine Raubzeug- und Wildschärfe, was bedeutet, dass sie je nach Größe, Wild stellen bzw. töten können. Ein Anfängerhund ist der Weimaraner auf keinen Fall. Wie gut, dass ich kein Anfänger bin.

Sofa vor grauem Putz.

Es war ein kleiner Riss. Eine Unebenheit. An einer Stelle der Wand hatte sich die Tapete gelöst. Sie stand ab und ich stand davor. Lange schaute auf diese Stelle. Sie war nicht größer als ein Fingernagel. Doch mit genau diesem, knibbelte ich daran. So lange, bis aus der kleinen eine große Stelle wurde. Ich zog eine komplette Bahn ab. Und noch eine. Wenn schon aufräumen, dann richtig. Ich mochte sie eh nicht mehr. 

Was übrig blieb, war Putz. Grauer, kalter Putz. Unperfekt schön. Auf die ein oder andere Art und Weise besonders. Fast gemütlich. Das warme Licht der Stehlampe zauberte ein besonderes Farbspiel auf die Wand. Wie schön muss es sein, wenn das Licht der Sonne an der kaltgrauen Wand ihre Kreise zieht. Doch heute fielen nur Regentropfen an die großen Fenster. 

Die Bahnen aus Vliestapete lagen auf dem Boden. Die Wand war befreit. Mit der Hand fuhr ich über das verputzte Mauerwerk, spürte den Widerstand und das leichte Kribbeln in den Handflächen. Es fühlte sich gut an. Nicht nur die Wand, auch die Veränderung. Ein leises, ungesehenes, zufriedenes Lächeln flog über mein Gesicht. Es gibt einen Unterschied zwischen Glück und Spaß. Es war ein Spaß, die Bahnen von der Wand zu ziehen. Aber was übrig blieb war Glück. 

Als ich das Sofa zurück an seinen Platz schob, war ich mir sicher, dass keine neue Tapete an dieser Wand einen Platz finden würde. Vielleicht etwas Farbe. Vielleicht etwas Struktur. Vielleicht würde das Sofa einen neuen Platz finden. Alles Fragen, die mir durch den Kopf schossen. Und während ihre Antworten auf sich warten ließen, war mir eine Sache ganz deutlich klar. Dieses Jahr wird sich vieles ändern. Und die Veränderungen, sie beginnen gerade erst. 

 

Florian hatte studiert. Irgendwas mit Medien. Was mit Marketing. Wahrscheinlich irgendwas mit Verkaufspsychologie. Er kannte sich hervorragend aus. Für die Agentur, für die er arbeitete, durfte er hin und wieder als Speaker auftreten. 400, 500 vielleicht sogar 600 Menschen hingen dann an seinen Lippen. Er sprach über die Positionierung von Unternehmen. Davon, wie sich Unternehmerinnen und Unternehmer von der Masse abheben und zur sichtbaren Marke werden können. Dabei betonte er allerdings stets, dass eine allgemeingültige Schablone, die sich individuell auf jedes Unternehmen anpassen würde, nicht gäbe. Er würde in jedem Fall zu einer individuellen Marketingberatung raten. 

Auf einer dieser Veranstaltungen lernte ich Florian kennen. Ich war dort, um seinen Auftritt in Bildern festzuhalten. Im Auftrag der Agentur. Während der Mittagspause kamen wir ins Gespräch. Gemeinsam saßen wir in der Ecke eines kleinen Restaurants. Er aß Pasta, ich Pizza. Im Hintergrund lief leise italienische Musik. Das er für das, was er tat brannte, bemerkte ich sofort. Es schien fast, als hätte er kein anderes Interesse in seinem Leben. Sein Thema während des Essens waren Webseiten. Er sprach von Domains, von der Navigation und Nutzerführung, von Usability und Design, von Inhalten mit Mehrwert und von den Kontakt- und Interaktionsmöglichkeiten, die eine Webseite haben sollte. „Call-to Action“ Buttons, die dafür sorgen, dass die Nutzerin oder der Nutzer eine bestimmte Handlung ausführt

Florian sprach eine besondere Sprache. Eine verständliche Sprache. Eine, die ohne große Fachbegriffe auskam. Er erklärte das, was er erklärte, stets auf Augenhöhe. Ich hörte ihm aufmerksam zu, notierte hier und da etwas in meinem Gedächtnisprotokoll. Während er sprach und ich aß, war ich mir sicher, dass ich von den Tipps und Tricks, die er mir kostenlos zusteckte, einige umsetzen würde. Das tat ich auch. Immer mal wieder. Zugegeben, einiges von dem, was er gesagt hatte, habe ich schlichtweg vergessen. Aber trotzdem war ich überzeugt, dass dieses Gespräch eine wirkliche Hilfe für mich war. Nur leider war dieses Gespräch eben keine Schablone, die sich eins zu eins auf mich übertragen ließ. Mein Fehler. Nicht Florians.      

Ich glaube, seitdem ich mich selbstständig gemacht habe, war ich stets darum bemüht, entsprechende Klischees zu bedienen. Es gab Zeitabschnitte, in denen ich diverse Rollen ausprobiert habe, um verschiedene Zielgruppen anzusprechen. Stets hatte ich dabei Florians Tipps im Hinterkopf, von denen ich dachte, ich könne sie 1:1 auf mich übertragen. Ganz wohl gefühlt habe ich mich dabei nie. Und zu diesem Gefühl des Unwohlseins kamen Selbstzweifel, die mich immer wieder in die Ecke gedrängt haben.

Na gut. Der Frühling naht und mit ihm der Drang zum Frühjahrsputz. Aufräumen. Ausmisten. Entstauben. Habe ich in den letzten oftmals damit auf den Schränken und an den Bilderrahmen angefangen, beginne ich in diesem Jahr damit in meinem Kopf. Seit gut 7 Tagen falle ich nach und nach aus der Rolle, mache Inventur in meinem Oberstübchen und habe sogar schon die Karte für den Sperrmüll ausgefüllt. 

Was ich erkannt habe? Weniger ist mehr. Ich mag das Konzept der Einfachheit. Sie ist das Gegenteil der Kompliziertheit. Mögen Florians Tipps und Tricks, all die Marketingkniffe und Werbestrategien ihre Richtigkeit haben, müssen sie doch nicht für jeden relevant sein. Ich, für meinen Teil, möchte keine Rollen mehr spielen, keine weiteren Klischees erfüllen oder Dinge tun, die weitläufig als richtig und wichtig betrachtet werden. Ich möchte mir meine eigenen Fragen stellen und meine eigenen Antworten finden. Und deshalb tat es bislang schon verdammt gut aufzuräumen. Klarheit bringt Klarheit. Und Distanz Antworten. Weniger ist mehr und ich drück jetzt mal 17 Euro ins Phrasenschwein.  

An Regen und Sturm ist gerade gar nicht zu denken. Die Sonne blinzelt zaghaft durch die Scheiben. Sie erinnert mich daran, dass der Frühling vor der Tür steht. Ich, gerade dabei für ein Unternehmen ein Video zu schneiden, freue mich darüber. Mit einem Lächeln im Gesicht mache ich mich auf in die Küche, um einen Kaffee zu kochen. Alexandra ruft an. Wir müssen über Farben und Formen, über Fotos und Geschichten sprechen. Die neue Saison steht in den Startlöchern. Genau wie der Frühling. Die Kaffeemaschine brummt. Ich mag den Kaffeevollautomat. Selbst wenn er zuweilen doch etwas Arbeit macht. 

Die Welt soll wissen, dass ich Kaffee trinke. Deshalb mache ich auf dem Rückweg einen kleinen Stopp vor dem Kamin. Vor diesem steht ein altes, halbes Weinfass. Dieses dient mir als Tisch. Als ich es bekam, roch das Holz nach gutem Rotwein. Lange her. Obwohl ich keinen Alkohol trinke, mochte ich den Geruch. Wenn der Tisch eines Tages aufgrund von Trockenheit auseinander fallen sollte, kaufe ich einen ähnlichen nochmal. Nicht nur wegen dem Geruch. Auch wegen der Optik. Die Kaffeetasse macht sich einfach gut auf dem dunklen Holz. Die Tasse an sich ist ebenfalls schön. Bunzlauer Töpferware. Nur so am Rande.

Gestern meinte jemand, eher etwas abwertend, ich hätte keinen Stress. Er war der Überzeugung, ich würde mir keinen machen. Ganz unrecht hatte er nicht. Ich nahm diesen Seitenhieb nicht persönlich, kannte diese Person mich gar nicht, sondern glaubte nur, mich zu kennen. Stress löst bei mir immer eine fiese Schuppenflechte aus. Diese kann so stark werden, dass meine komplette Kopfhaut sich in ein Meer aus Schuppen verwandelt. Einige können so groß wie ein Fingernagel werden. Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als mich von meinem Haupthaar zu trennen, damit ich die Kopfhaut mit speziellen Salben behandeln kann. Meine Hautärztin, vor einigen Jahren, wäre fast verzweifelt. Wenn Stress ein Statussymbol sein soll, verzichte ich gerne auf diesen Status.  

Zurück am Schreibtisch schaue ich mir wieder die Videoschnipsel der letzten Woche an. Anlagenbau. Zwei Männer tragen ein riesiges Rohr, ein Mann schweißt Einzelteile zusammen. Aus diesen kleinen Schnipseln entsteht ein kurzes Video. Zur Mitarbeitergewinnung. Anschließend ist ein Video der Elektrotechnik dran. Heute ist Mittwoch. Morgen Donnerstag. Mein Tag. Diesen, so habe ich mir überlegt, nutze ich zukünftig, um eigenen Content zu erstellen. Für Instagram. Für YouTube. Und später, am Nachmittag, arbeite ich an meinem Manuskript weiter. 

Nein. Ich habe selten Stress. Nur zeitweise. An einigen Tagen. Stress überlasse ich lieber den großen und kleinen Unternehmern, die sich dann, am Wochenende am Stammtisch darüber echauffieren können, wie anstrengend ihr Leben ist. Und ich glaube, dass sie später, an einem der Tage, kurz bevor sie sterben, bereuen werden, dass sie sich ihr Leben so anstrengend gestaltet haben. Stress mag ein Statussymbol sein, genau wie teure Uhren, dicke Autos, weitentfernte Urlaube oder riesige, große Häuser. Mir hingegen ist ein Kaffee auf einem alten Weinfass und eine gesunde Kopfhaut wichtiger. Und die Tatsache, dass ich zuweilen lachen kann, weil ich wieder irgendeinen Unsinn im Internet veröffentliche. 

Meine größte Sorge gerade? Der Kaffee könnte kalt werden. Aber am Ende ist das ist nicht weiter tragisch. Ich mag kalten Kaffee. 

Es gibt da diese Werbung. Von Apple. Eine großartige Werbung. Über die Produkte dieses Unternehmens lässt sich streiten. Ich mag sie. Aber mehr noch mag ich die eben erwähnte Werbung. Warum? Ganz einfach. Wegen der Botschaft und dem Aufruf anders zu denken. 

Ein Hoch auf die Verrückten. Heißt es da. Ein Hoch auf die Verrückten, auf die Außenseiter und Rebellen, die Unruhestifter und Querköpfe. Ein Hoch auf die Menschen, die die Dinge anders sehen. Sie pfeifen auf die Vorschriften. Sie haben keinen Respekt vor dem Status quo. Man kann sie zitieren, ihnen widersprechen, sie verherrlichen oder verleumden. Nur ignorieren kann man sie nicht, denn sie verändern die Welt und treiben die Menschheit voran. 

Während einige sie für verrückt halten, betrachten wir sie als Genies. Denn Menschen, die verrückt genug sind zu glauben, dass sie die Welt verändern können, werden es eines Tages tun. 

09:02 Uhr

Meine erste Kamera war ein Trostpreis. Eine kleine, unscheinbare Kamera aus grauem Plastik. Mit einer 35mm Linse. Analog, wohlgemerkt. Ich glaube, digitale Kameras gab es zu jener Zeit noch nicht. Neun Jahre alt muss ich gewesen sein, oder zehn. Irgendwas in diesem Spielraum. Die Kamera war ein Trostpreis für einen der letzten Plätze beim Kinderkönigschießen. Vielleicht sogar war es der letzte Platz. Heute spielt es keine Rolle mehr und doch eignet sich diese Erinnerung für eine kleine Geschichte. 

Leicht niedergeschlagen kam ich früher als erwartet vom Kinderschützenfest nach Hause. Ich warf die Kamera auf den Tisch und setzte sich zu meiner Oma. Sie bemerkte meine Traurigkeit, sagte aber kein Wort. Stattdessen begutachtete sie meinen Trostpreis, ging zu ihrem Wohnzimmerschrank und zog, aus einer Schublade, einen Farbfilm heraus. Diesen legte sie in die Kamera ein und sagte mir, dass ich nun meine kleine Welt festhalten könne. Oder so ähnlich. An den genauen Wortlaut erinnere ich mich nicht mehr.

Was für eine Enttäuschung. Die ersten 24 Bilder waren grauenhaft. Verwackelt, unscharf, beschissen wäre noch geprahlt. Ich bekam einen zweiten Film. Einen dritten. Einen vierten. Und mit jedem Mal wurden die Ergebnisse besser. Es funktioniert immer nicht alles beim ersten Mal. Nun gut. Die Filme gingen dahin, Bilder wurden entwickelt und irgendwann erkannte ich, dass dieses Hobby eben seinen Preis hatte. Aus finanzieller Sicht. Ich konnte mir nicht immer einen neuen Film leisten und die Entwicklung kostete ebenfalls Geld. Also legte ich die Kamera weg und vergaß sie.

Viele, viele, viele Jahre später kamen die ersten digitalen Kameras auf den Markt. Ich hatte mir in der Zwischenzeit längst eine analoge Spiegelreflexkamera geleistet, mühsam zusammengespart und für diese auf einiges verzichtet. Die digitalen Kameras allerdings veränderten (für mich) alles. Die Möglichkeiten waren grenzenlos. Immer wieder zeigte ich meiner Oma meine Fotos und manchmal war sie begeistert. Weniger begeistert war sie, wenn sie das Motiv war.  

Einige Zeit, nachdem meine Oma gestorben war, rief meine mich meine Mutter zu sich. Sie kam aus Omas Schlafzimmer und hatte eine kleine Schachtel in der Hand. Diese drückte sie mir in meine Hand. „Hier“, sagte sie, „das gehört Dir.“ Ich öffnete die Schachtel und in dieser befand sich eine kleine, unscheinbare Kamera aus grauem Plastik. Mit einer 35mm Linse. Analog, wohlgemerkt. Es war meine Kamera aus Kindheitstagen und Oma hatte sie all die Jahre aufbewahrt. Ich dachte immer, ich hätte sie verloren.   

  

  

Leichter Nieselregen. Der Himmel bewölkt. Durch das Fenster betrachtet, könnte der Eindruck entstehen, es wäre kalt. Dem ist nicht so. Wobei das immer eine persönliche Auslegungssache ist. Selbstverständlich. Auf der Straße duftet es nach Salzkartoffeln und Schweinebraten. Zwei ältere Herrschaften kommen mir entgegen. Sie unterhalten sich, kommen wahrscheinlich gerade vom Gottesdienst. Der Klang der Kirchenglocken ertönte schon vor einiger Zeit. Gerade herrscht Stille, wäre da nicht die Unterhaltung der Herrschaften und das vorbeifahrende Auto. Ein Sonntag auf dem Dorf.

Bei mir gibt es heute kein traditionelles Sonntagsessen. Keine Salzkartoffeln. Keinen Schweinebraten. Kein Rotkohl. Nicht einmal Pudding. Ich habe mich für einen Auflauf entschieden. Einen Gnocchi-Spinat-Auflauf mit Champignons. Das Ganze in einer Basilikumcremesoße. Mit Käse überbacken. Wie erwähnt, nicht traditionell, aber dafür mindestens genauso lecker.       

Sonntage dienen bekanntlich der Erholung. Das ist bei mir nicht anders. Und sofern es möglich ist, es gibt Sonntage, an denen ich arbeiten darf, liebe ich diese Erholung. Ein langer Spaziergang, Klaviertöne beim Kochen, gutes Essen, welches ich ohne Ablenkung zu mir nehme, ein entspannter Nachmittag mit Kaffee auf dem Sofa. Und in den Abendstunden schreibe ich gerne etwas. Vielleicht ist das ein Teil meiner DNA. Das Schreiben von Texten und Geschichten. Doch heute spielt es keine Rolle. Heute ist Sonntag und meine warme Decke wartet bereits auf mich.